„Okay, schnellstens ins Labor damit und die halbe Truppe sofort nach Haltern an den Vereinsteich und ebenfalls nach Spuren untersuchen. Da will uns jemand etwas mitteilen und wir beißen an. Schick mir Fotos von dem Turnschuh.“
Zweifelsohne ging es um das Schicksal einer Frau, das jemand anderes aus der Vergangenheit ans Licht bringen wollte, und der Adressat war die Polizei. Feys Handy summte. Sie betrachtete das Foto und sofort war ihr klar, dass es sich um eine junge Frau handeln musste. Das, was der Kollege mit Schleifenband bezeichnet hatte, war ein aus Spitze bestehendes Band, das sorgfältig zu einer Schleife gebunden war. Das wirkte jugendlich.
Charly meldete sich auf ihrem Handy. „Hallo Fey, der Juwelier, den ich befragt habe, sagt, dass Ohrringe dieser Art Anfang des Jahrhunderts aus Österreich-Ungarn auf den deutschen Markt kamen. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie oft gegen Butter und Kartoffeln eingetauscht. Danach verloren sie ihren Reiz und verschwanden vom Markt. Die Haarspange ist billiger Kaufhausschmuck und der Bernstein trägt Einschlüsse von winzigen Objekten aus dem Meer.“
Fey bedankte sich. Aufgrund der Schuhgröße konnte sie auf die Körpergröße schließen. 160 bis 165 cm schätzte sie. Haarfarbe war eindeutig schwarz und auch beim Alter wagte sie eine vorläufige Eingrenzung. Der Turnschuh auf dem Foto war ein billiges Fabrikat, Stoff und Gummi und stellenweise verschlissen. So was trugen eher junge Frauen – eine Modeerscheinung, die mit den 60er-Jahren aufkam. Wenn es sich um einen Mord handelte, geschah er in der Gegend zwischen Haltern und Dülmen. Das war zwar eine vage Vermutung, aber es reichte für eine brauchbare Arbeitshypothese. Schließlich waren Haltern und Dülmen die Schauplätze für die Funde. Da gab es einen Zusammenhang zwischen Mord und Ort. Die Beteiligten würden in diesem Umfeld zu suchen sein. Aber laut Aktenlage wurde kein Mord an einem Mädchen verübt, das die bisher bekannten Merkmale trug. Eine solche Leiche wurde nie gefunden. Wasser spielte eine Rolle und Angeln auch. Vielleicht wurde das Mädchen ertränkt oder ertrank durch Fremdverschulden. Außerdem war sie zugereist. Charly hatte festgestellt, dass die Schwermetallkonzentration in den Haaren bis zur Haarwurzel in den letzten Monaten ihres Lebens abgenommen hatte. Er konnte nachweisen, dass sie vor ihrem Ableben etwa neun Monate in einer relativ sauberen Umwelt verbracht hatte.
Unterwegs nach Münster riefen die KTUler vom Halterner Vereinsgewässer an und berichteten ebenfalls von Fahrzeugspuren und Fischschuppen, die auf den Besatz von Fremdfischen hindeuteten. Außerdem fanden sie ein silbernes Kettchen mit einem Peace-Zeichen als Anhänger daran, das ebenfalls an einem Baum befestigt war.
Fey fühlte sich an die 68er-Generation erinnert. Hippies, Love, Peace, Woodstock und die Demos im geteilten Deutschland. Turnschuhe, billige Haarspange, jung, geerbter Schmuck. Da passte einiges zusammen. Der Mord wäre damit zeitlich grob einzuordnen. Er würde in den Zeitraum 1965 bis 1975 fallen. Um es nicht zu kompliziert zu machen, legte sie die Zeit auf etwa 1970 fest und fasste zusammen: Mord an einer jungen schwarzhaarigen Frau der Hippiegeneration, im Einzugsgebiet zwischen Haltern und Dülmen, von Bedeutung sind Wasser und Angeln. Die Frau ertrank, ihre Leiche wurde nie gefunden, aber es gab mindestens einen Zeugen und genau dieser wühlt nun in der Vergangenheit. Will er Gerechtigkeit oder Rache? Er spielt mit Beweismaterial, will die Polizei beteiligen. Zwei Fragen drängen sich auf: Erstens:Warum ging der Zeuge damals nicht zur Polizei? Zweitens: In welchem Verhältnis stand der Zeuge zu dem ermordeten Mädchen? Vielleicht hatte er selber Dreck am Stecken und zog es damals vor zu schweigen? Die ermordete Frau war ein Teenager oder in ihren frühen zwanziger Jahren. Das war ein Alter, in dem man sich verliebte. Insofern könnte es sich auch um ein Beziehungsdrama gehandelt haben. Ihr damaliger Partner wäre heute etwa sechzig Jahre und älter.
Fey mochte es, dass ein Gedanke den anderen produzierte, aber die Grundlagen waren zu schwammig. Keine Leiche, keine Zeugen, keine Waffe, nur ein vages Motiv und eine Handvoll Indizien. Das war zu dürftig, um damit Entscheidungen zu begründen.
Unabhängig voneinander hatten Pörschke und Haverkamp die gleiche Idee. Es lag auf der Hand, die Unschlüssigkeit der Polizei auszunutzen und selber tätig zu werden. Ein Abpumpen der Teiche hätte katastrophale Folgen für Fauna und Flora gehabt. Die pensionierten Senioren der beiden Vereine trafen sich in der Nacht zu Dienstag an ihren Teichen. Auch für die nächste Nacht war eine solche Aktion geplant. Dort wurde dann bis in die Morgenstunden nach Karpfen gefischt. Man wollte Fey Amber vor vollendete Tatsachen stellen. Der Entschluss fiel nicht vom Himmel, es hatte eine heiße Debatte gegeben. Bei den Halternern sorgte Michalzek mit einer passionierten Rede über Ehre und Vereinstreue für den Durchbruch. Haverkamp hatte zwar die Idee gehabt, aber Michalzek heimste den Applaus ein. In Dülmen musste Mani Kempinski eine Schlappe vor versammelter Mannschaft hinnehmen. Er hatte sich für den Gehorsam gegenüber der Polizei ausgesprochen und wurde wegen seiner arschkriecherischen Haltung von Pörschke niedergemacht. Der plötzliche Patriotismus in beiden Vereinen kam aber auch daher, dass man sich brüstete, in einem Mordfall Indizien mit dem Angelhaken ans Tageslicht befördert zu haben. Jeder stachelte den anderen an und alle waren sich einig, dass sie lediglich der Gerechtigkeit ein wenig unter die Arme griffen. Mani Kempinski wurde zum Ketzer gestempelt und unter der Hand als Memme bezeichnet. Er sah sich an den Rand gedrängt und kündigte an, Pörschke unter vier Augen zur Rede stellen zu wollen.
Am frühen Dienstagmorgen erhielt Fey Amber zunächst einen Anruf von Pörschke, der die ganze Nacht hindurch seine Köder gebadet hatte. Seine Stimme brodelte, denn er war Kettenraucher und seine Bronchien nahmen ihm übel, dass er nicht geschlafen hatte. Pörschke triumphierte.
„Hier wartet eine Überraschung auf Sie. Heute und gestern wurden 67 Karpfen von uns gefangen. Nur zwei davon trugen eine Markierung: ein Ohrring und ein Fingerring. Sind wohl doch nicht so viele Beweisstücke in unserem Gewässer unterwegs. Vielleicht hilft Ihnen der Ring weiter, darin befindet sich eine Gravur.“
Fey wollte aufbrausen, sah aber sofort ein, dass es im Nachhinein keinen Sinn machte, mit rechtlichen Schritten gegen das eigenmächtige Verhalten der Männer vorzugehen. Sie würden es Zivilcourage nennen und von der Bevölkerung bewundert werden. Feys Chef Carstensen war in Sachen Öffentlichkeit ein Duckmäuser, posierte gern als erfolgreicher Dezernatsleiter vor der Kamera. In dieser frühen Phase musste sie Kritik an ihren Entscheidungen vermeiden. Es gab immer noch keine ausreichenden Beweise für einen Mord. Sie ließ Pörschke wissen, dass jemand die Beweisstücke abholen werde und das Angelverbot aufgehoben sei. Fey dachte sofort daran, dass die Halterner genauso wie die Dülmener gehandelt haben würden. Sie rief dort beim Angelverein an und verlangte nach Haverkamp. Als fühlte er sich ertappt, versuchte er mit Ausflüchten die Sache zu verharmlosen. Fey fand, dass er übertrieben nervös klang. Sein Wortfluss stockte, als hätte er Luftnot und seine Erklärungen schwankten ins Unsachliche.
„Sagen Sie mir doch einfach, dass Sie gegen die Auflage der Polizei verstoßen haben“, fuhr Fey ihn an. Sie hörte, wie Haverkamp tief durchatmete.
„Wissen Sie, wir wollten nur helfen. Ein paar Freiwillige haben sich geopfert und waren erfolgreich. Es wurde ein Karpfen mit einem schwarzen Nylonband gefangen. Man könnte sagen, ein Trauerflor. Vielleicht möchten Sie ja doch, dass wir weitermachen.“
„Machen Sie, und kein Wort an die Presse! Sollte ich aus der Zeitung erfahren, dass die mehr wissen als ich, ist der Teufel los. Ich schicke eine Streife vorbei. Halten Sie das Nylonband bereit.“
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