Herr Fink
Meine Überzeugung war: Ich habe nur noch kurz zu leben. Ich habe zu Hause angefangen, aufzuräumen, war der Meinung: Das Leben geht jetzt nicht irgendwann, sondern bald, ja schnell zu Ende. Ich habe mich wirklich über jeden Tag gefreut, den ich noch erleben durfte. Ich war innerlich ganz ruhig und habe keine Hektik entwickelt.
Frau Fink
Wir sind sogar noch in Urlaub gefahren.
Albus
Herr Fink, haben Sie sich unter der Oberfläche des Alltags in dieser Zeit mit der Härte der Tatsache und dem, was daraus folgen könnte, auseinandergesetzt, oder haben Sie die neue Wirklichkeit verdrängt?
Herr Fink
Ich habe mich nicht mit der Tatsache auseinandergesetzt, weil ich relativ zufrieden war. Ich habe mir gesagt: Du bist jetzt 75 Jahre alt, bist eigentlich zufrieden.
Albus
Haben Sie sich bei aller Zufriedenheit nicht doch in Ihrem tiefsten Innern gegen dieses Urteil, das Ihnen der Arzt übermittelt hat, aufgelehnt?
Herr Fink
Doch, manchmal habe ich mich aufgelehnt. Aber anfänglich ging’s mir doch noch gut. Auch angesichts des Urteils der Ärzte habe ich keinen Anlass für eine Veränderung in meiner Lebensführung gesehen. Ich habe und hätte mir ja auch erlauben können, in Urlaub zu fahren und das oder jenes zu „drehen“. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte mein Leben ganz normal weiterführen. Ich wollte rausgehen, in den Garten, wollte sehen, was da wächst. Und ich wollte mit meiner Frau zusammen schön frühstücken. Wir haben begonnen – was ich vorher nie gemacht hatte –, morgens einen Piccolo zu trinken. Das hat uns genügt.
Albus
Frau Fink, war das so, wie es Ihr Mann gerade beschrieben hat?
Frau Fink
Nicht ganz! Nach der Diagnose hat sich Helmut im Internet oder in Büchern kundig zu machen versucht. Alles, was er kriegen konnte, hat er erforscht: Über Leute, denen es genauso ging wie ihm nun. Und wie die das erlebt haben. Wir sind in viele Vorträge gegangen. Helmut hat auch sein Essen total umgestellt. Er hat keine Kohlehydrate mehr, sondern nur noch Gemüse gegessen, weil Kohlehydrate den Krebs ernähren würden. Auch Fisch und Fleisch hat er gegessen. Am Frühstückstisch und auch bei den anderen Mahlzeiten hat er eine ganze Palette Gewürze verwendet, die ihm helfen sollten. Manchmal habe ich nicht mehr gewusst, ob ich das, was ich gekocht hatte, richtig abgeschmeckt habe. Ihm konnte keiner mehr, was seine Krankheit betraf, etwas vormachen. Auch der Arzt nicht!
Ich habe manchmal geschimpft mit ihm, weil er die Sachen gar nicht aus seinem Kopf rausgekriegt hat. Ich habe ihm gesagt: Was interessiert dich denn, wie der oder der gelebt oder gestorben ist. Lass’ es doch auf uns zukommen! Es wird doch alles gut! – Ich habe immer geglaubt: Das haben wir im Griff!
Albus
Sie hatten es dann nicht mehr im Griff.
Frau Fink
Ja! Leider ja!
Albus
Sie haben gedacht, es wird doch wieder gut. Und jetzt die Gewissheit, das Todesurteil: Es wird nicht mehr gut. – Was ist da mit und in Ihnen beiden vor sich gegangen?
Was hat es mit Ihnen, Herr Fink, gemacht? Haben Sie die Frage aufkommen gespürt, ob es danach irgendwie weitergeht? Ob etwas – etwa im Blick auf die Kinder – von Ihnen bleibt, was vielleicht sogar „ewig“ bleibt? (Herr Fink wird jetzt sehr müde, schließt die Augen, kann nicht mehr reden)
Frau Fink
Am Anfang, kurz nach der ersten Diagnose, hat mein Mann sich Gedanken gemacht, wie er seinem Leben ein Ende setzen kann. Er wollte den Leidensweg, der unmittelbar vor ihm lag, nicht mitmachen. Das war am Anfang ganz stark, hat sich aber, als er gemerkt hat, dass es ihm eigentlich noch ganz gut geht, wieder verflüchtigt. Er hat dann auch nicht mehr davon gesprochen. Später hat er seiner Tochter gestanden, dass er am Anfang daran gedacht hat, sich das Leben zu nehmen. Aber dann ging es ihm ja wieder gut, und er wollte das Leben noch genießen. Als aber die Schmerzen wieder kamen, musste halt etwas geschehen.
Dann haben wir uns hier bei der Palliativstation der Universitätsklinik gemeldet. Mitarbeiter von dort kamen zu uns nach Hause und haben mit Helmut gesprochen, haben ihm auch stärkere Schmerzmittel gegeben. Aber das hat alles nicht so richtig geholfen.
Albus
Herr Fink, haben Sie nach der entscheidenden Urteilsverkündung den Gedanken gehabt, sich das Leben zu nehmen? (Frau Fink gibt ihm etwas zu trinken)
Herr Fink
Ja, ganz am Anfang, als die Keule, das Urteil, kam, habe ich mich nach dem besten Sterbebegleiter umgesehen. Ich dachte, das Leben ist doch so nicht mehr sinnvoll. Gefallen hat mir nicht, dass ich dafür ins Ausland reisen und dort das tödliche Mittel einnehmen muss. Ich wollte mich lieber um das Grab kümmern. (Es fällt Herrn Fink sichtlich schwer, weiterzusprechen. Er seufzt immer wieder tief). Das war mir dann wichtiger. – Also ins Ausland reisen zu müssen, das hat mir nicht gefallen. Ich habe mich dann hier um einen Sterbebegleiter gekümmert, habe mich erst einmal ein bisschen informiert über diese Möglichkeiten. Dann habe ich aber auch immer wieder gedacht: Das Leben bringt doch auch jetzt noch schöne Momente. Warum soll ich mich umbringen? Damit war für mich das Thema eigentlich erledigt und kam auch nicht wieder.
Aber eins ist auch klar: Wenn ich nicht eine so fantastische Einrichtung wie die Palliativstation hier kennengelernt hätte, dann wäre der Gedanke unweigerlich wieder gekommen. Ich finde das so toll, wie ich hier aufgenommen wurde und versorgt werde. Das hat den Gedanken wieder vertrieben.
Albus
Haben Sie Zeit ihres Lebens einmal so etwas wie „Religion“ gehabt, wie den Glauben an etwas „Höheres“, an Gott vielleicht sogar?
Herr Fink
Ich bin, Gott sei Dank, am Anfang, in meiner Kindheit, den glücklichen Weg einer katholischen Kleinfamilie gegangen. (lacht) Ich war Messdiener … (lacht wieder)
Frau Fink
… Ja, Schauspieler war er … (Herr Fink lacht wieder)
Herr Fink
… Aber ich bin ja auch mal aus der Kirche ausgetreten, als meine erste Frau weggelaufen ist. Da habe ich gesagt: Jetzt bist du ein armer Mensch! Ich habe nur noch Fisch aus der Dose gegessen. Ich musste ja auch sparen. Nach ein paar Jahren bin ich wieder in die Kirche eingetreten.
Albus
Das ging und geht vielen Menschen so. Irgendwie kommt da im Laufe des Lebens eine Leere, die die Kirche nicht mehr füllen kann. Vor allem dann, wenn sie nur Formeln sagt und auf die Fragen und Nöte des einzelnen, konkreten Menschen nicht eingeht. – Aber abgesehen von der Kirche frage ich Sie jetzt noch einmal: Haben Sie Zeit Ihres Lebens an so etwas geglaubt wie „Gott“, wie ein „Höheres Wesen“, an eine Kraft, die es gibt, die, zum Beispiel, die Pflanzen aufblühen und wieder verschwinden lässt? Haben Sie daran geglaubt?
Herr Fink
Ja!, Ja! Von den Pflanzen habe ich vieles erfahren.
Frau Fink
Mir ging es ähnlich mit der Kirche. Als die Großmutter kontrollierte, ob ich auch zum Gottesdienst gehe, habe ich aus Angst mitgemacht, oder um einfach meine Ruhe zu haben. Als ich mich dann selbst entscheiden konnte, habe ich es sein lassen. Ich war aber immer Christin. Aber keine Kirchgängerin. Ich war in der Natur Gott oft näher als in der Kirche. Dort waren mir zu viele Heuchler. Die sind nach dem Gottesdienst draußen vor der Kirche gestanden und haben sich abfällig über die anderen unterhalten. Das hat man in der Natur halt nicht. Dort ist alles ehrlich.
Albus
Ich habe jetzt noch eine Frage an Sie beide. Zuerst aber an Sie, Herr Fink: Glauben Sie, dass nach dem Tod „alles aus“ ist, oder glauben Sie, dass irgendetwas vom Leben weitergeht? Sollte es nach Ihrer Auffassung irgendwie weitergehen? Welche Vorstellung habe Sie davon?
Herr Fink
Ja, das ist eine große Frage!
Albus
Sie zucken mit den Schultern. Sie wissen es nicht? Haben Sie das Gefühl, in etwas Dunkles, in eine große Nacht hineinzugehen? Haben Sie Angst?
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