Friedrich Schweitzer
|9| Zur Einleitung Fragestellungen, Ziele, Vorgehensweise
Der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung wird heute vielfach thematisiert. Im Zentrum stehen dabei zumeist Fragen nach Herausforderungen am Beginn und am Ende des Lebens – von extrauteriner Zeugung, pränataler Diagnostik und Stammzellenforschung bis hin zur Sterbehilfe. Zwangsläufig sind dabei auch religiöse und religiös-ethische Dimensionen berührt, da es unvermeidlich um unterschiedliche Vorstellungen vom Menschsein und von dessen Würde geht. Davon zeugt auch die aktuelle rechtlich-politische Debatte um die Begründung und Auslegung der Menschenwürde in den Menschen- und Grundrechten.
Zahlreiche gesellschaftliche und politische Initiativen berufen sich auch auf die Menschenwürde, wenn sie Bildungsmöglichkeiten für diejenigen einklagen, denen sie noch immer vorenthalten werden. Ein solches Verständnis von Menschenwürde schließt sich mehr oder weniger ausdrücklich den Menschenrechten an oder auch den entsprechenden Garantien im Recht der Einzelstaaten, in Deutschland etwa dem Grundgesetz mit den Grundrechten. In deutlichem Kontrast zu solchen Garantien steht etwa der Befund, dass beispielsweise Kinder mit einem sogenannten Migrationshintergrund weithin von vornherein geringere Bildungschancen haben als andere Kinder.
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung ist zugleich ein Thema innerhalb der Kirche. Bei pädagogischen Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft, etwa bei Kindergärten, wird vermehrt nach deren christlichem oder evangelischem Profil gefragt. Beantwortet wird diese Frage gern mit dem Hinweis auf das besondere Menschenbild, für das man sich häufig auf die Gottebenbildlichkeit beruft. In einer solchen Einrichtung seien alle Kinder willkommen, und alle seien gleich anerkannt. Die Gottebenbildlichkeit wird hier auf Kinder bezogen und als Voraussetzung der Menschenwürde interpretiert.
Eine rechtliche Begründung dafür, dass die Menschenwürde einen Anspruch auf Bildungsmöglichkeiten konstituiert, fällt in der Tat leicht. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) beispielsweise spricht schon in der Präambel von der »angeborenen Würde« sowie von der Anerkennung der »gleichen und unveräußerlichen |10| Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen«. Artikel 1 unterstreicht dies nachdrücklich: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Artikel 26,1 schließlich hält unmissverständlich fest: »Jeder hat das Recht auf Bildung.« Und ähnlich heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949), gleich in Art 1,1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Zusammen mit dem »Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Art. 2,1) ergibt auch dies eine Begründung für das Recht auf Bildung. Und um noch ein weiteres wichtiges Dokument zu nennen – das »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« (sog. Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, 1989) bestätigt in Art. 28 erneut das »Recht des Kindes auf Bildung« und verweist darüber hinaus auf die »Chancengleichheit« (Art. 28,1) sowie auf das »Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard« (Art. 27,1).1
Der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung scheint also evident. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass er auch zur wirksamen Richtschnur für politisches und pädagogisches Handeln geworden wäre. Denn bereits die programmatische Berufung auf diesen Zusammenhang in unserer Gegenwart lässt erkennen, dass mit erheblichen Realisierungsproblemen zu rechnen ist. Aus der Evidenz von Bildungsrechten erwächst auch in diesem Falle noch keine Garantie für deren praktische Gewährleistung, schon gar nicht im Sinne einer wirklichen »Chancengleichheit«, wie aus der entsprechenden Bildungsforschung längst bekannt ist.2 In der Realität reproduzieren die auf »Chancengleichheit« eingestellten Bildungssysteme allemal die Unterschiede bei den Kindern vor dem Schuleintritt. Das zeigen ebenso die Ergebnisse der Bildungsreformen der 1960er Jahre, die auch international im Zeichen der »Chancengleichheit« standen, wie die aktuellen Befunde aus den PISA-Schulvergleichsuntersuchungen.3
Man kann dies auch so ausdrücken: Hinter den Realisierungsproblemen zeichnen sich weiterreichende Motivations- und Spezifizikationsprobleme ab. Rechtstexte besonders so abstrakter Art, wie es |11| die Grund- und Menschenrechte sind, entbinden bei den Menschen offenbar – trotz ihrer zumindest beabsichtigten Evidenz – nicht sogleich auch eine entsprechende Bereitschaft oder Motivation dafür, sich für ihre Realisierung einzusetzen. Auch wer sich gerne für sich selbst auf solche Rechte beruft, zieht daraus offenbar nicht notwendig die Konsequenz, sich auch für die Rechte anderer einzusetzen.
Bei der »Würde des Menschen« dürfte dies auch damit zusammenhängen, dass gar nicht so leicht zu sagen ist, was damit eigentlich gemeint sein soll. Es fällt schwer, diese »Würde« zu spezifizieren, sie also näher zu bestimmen, so dass sie als Grundlage pädagogischen Handelns in Anspruch genommen werden kann. Denn dazu ist ein bestimmtes Menschenverständnis erforderlich, wie es abgekürzt gern als Menschenbild bezeichnet wird.
Damit stoßen wir zugleich auf ein weiteres Problem, das sich vor allem dem Staat in diesem Zusammenhang stellt. Das staatliche Recht in demokratischen Staaten kann und darf keine Menschenbilder vorschreiben, weil dabei unvermeidlich religiöse und weltanschauliche Überzeugungen ins Spiel kommen, deren Freiheit und damit Pluralität jede moderne Demokratie doch wesensmäßig voraussetzen muss. Aber wie soll pädagogisches Handeln dann noch von der Menschenwürde her begründet werden?
In dieser Hinsicht tun sich Überzeugungs- und Glaubensgemeinschaften wie die Kirche naturgemäß leichter, weil sie wesensmäßig ein Bekenntnis einschließen. Aber was bedeutet beispielsweise das Apostolische Glaubensbekenntnis für Bildung? Und auch wenn für die Evangelische Kirche an die Bekenntnisbedeutung der biblischen Schriften gedacht werden kann, sieht es hier doch nicht viel besser aus. Denn wer etwa dem Hinweis auf Gen 1,27 als Urkunde der Gottebenbildlichkeit des Menschen folgt und die Kommentare zur Bibel zu Rate zieht, erfährt dort kaum etwas über Bildung. Insofern stellt sich auch innerhalb der christlichen Überlieferung für den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung ein grundlegendes Vergewisserungsproblem hinsichtlich der eigenen normativen Quellen.
Fasst man die Realität evangelischer Bildungseinrichtungen in den Blick, so wie dies beispielsweise unlängst mit Hilfe einer empirischen Untersuchung zu dem Verein Christliches Jugenddorf geschehen ist, wird weiterhin deutlich, dass innerhalb solcher Einrichtungen auch faktisch keineswegs Einigkeit hinsichtlich der religiösen und anthropologischen |12| Grundlagen herrscht.4 So zählt das dort tätige Personal nach eigener Aussage das Gleichheitsgebot an vorderster Stelle zu den Prinzipien, an denen man sich im christlich-pädagogischen Handeln orientieren will, während die Ausrichtung an der Gottebenbildlichkeit des Menschen weit abgeschlagen auf einem der letzten Ränge erscheint. Insofern ist auch für die Kirche und ihre pädagogischen Einrichtungen von einem ausgesprochenen Problem der Selbstverständigung zu sprechen. Es muss offenbar allererst genauer geklärt werden, in welchem Sinne man sich hier an Menschenwürde oder Gottebenbildlichkeit orientieren kann oder will.
Selbst Theologen, die wie etwa Eilert Herms zu Recht darauf hinweisen, dass die christliche Überlieferung zumindest als eine Antwort auf das Motivations- und Spezifizierungsproblem anzusehen ist, nehmen deutlich wahr, dass auch daraus weitere Fragen resultieren.5 Denn nach der Trennung von Staat und Kirche kann das Ziel nicht darin bestehen, die gesamte Gesellschaft von Staats wegen auf ein bestimmtes Menschenbild zu verpflichten. Das Spezifizierungsproblem taucht deshalb nun in der Gestalt des Pluralitätsproblems in veränderter Weise noch einmal auf. Allerdings, so die Hoffnung, kann dieses Problem im Dialog der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wirksamer bearbeitet werden als vom Staat, der sich auf ein religiöses und weltanschauliches Neutralitätsgebot verpflichtet sieht. Wo unterschiedliche Verständnisse des Menschen offen zum Ausdruck kommen, da können sie in ein Verhältnis zueinander gesetzt, aber auch kritisch befragt werden. Genau dies soll der anzustrebende Dialog der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften leisten.
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