Augenblicklich blieb Peer die Pasta im Halse stecken. Ohne Medikation waren Triebtäter unberechenbar. Die normalen Muster und Profile konnte man getrost ad acta legen und nach jedem Fall neue Verhaltensauffälligkeiten konstatieren. Bei Karl Ressler kamen ein IQ von 146 und oscarreife schauspielerische Fähigkeiten hinzu. Einmal, als sie gemeinsam schwimmen waren, hatte Karlchen es tatsächlich geschafft, dass alle, einschließlich des herbeigeeilten Sanitäters, glaubten, er sei ertrunken. Knapp vier Minuten nach seinem Kopfsprung vom Dreimeterbrett war er immer noch nicht wieder aufgetaucht. Zwei DLRG-Bademeister bargen ihn vom Grund des fünf Meter tiefen Springerbeckens und legten ihn rücklings auf die Wiese. Er gab keinen Piep mehr von sich, auch nicht nach Wiederbelebungsmaßnahmen durch die Bademeister und die Sanitäter. Erst als Uschi, Karls damaliger Schwarm aus der 9. Klasse, ihn per Mund-zu-Mund-Beatmung ein letztes Mal zu reanimieren versuchte, prustete er plötzlich literweise Wasser in Uschis Gesicht, die sich in der Situation natürlich erst einmal unbändig freute, jemandem vermeintlich das Leben gerettet zu haben. Dass Karl all das geplant hatte, um sie zwei Tage später ins Kino einzuladen, ahnte natürlich niemand – am allerwenigsten Uschi.
„Was ist passiert, Meike? Warum ändert er sein Profil so drastisch? Es muss etwas Einschneidendes in seinem Leben vorgefallen sein!“ Meike blickte ins Leere. „Unsere Mutter ist letztes Jahr gestorben. Ich als Psychotante habe mich natürlich gefragt, welchen Einfluss dieses Ereignis auf ihn haben könnte, zumal er zum Zeitpunkt ihres Todes noch einsaß und auch die letzten Wochen, in denen sie wegen ihrer Krankheit sehr gelitten hat, nicht mitverfolgen konnte. Insofern glaube ich eigentlich nicht, dass die Krebserkrankung unserer Mutter etwas mit dem gesteigerten Tötungstrieb meines Bruders zu tun hat. Aber man weiß ja nie.“
Ein Rosenverkäufer stand plötzlich debil lächelnd an ihrem Tisch. Peer legte zehn Euro auf den Tisch und bekam dafür vier rote Rosen, die er Meike, seltsam feierlich dreinblickend, überreichte. „Womit hab ich das nun verdient?“, fragte Meike ihn. „Bleibt uns die Zeit, bei mir zu Hause auf die alten Zeiten anzustoßen und meine alte 80er-Jahre-Hairspray-Metal-CD-Sammlung durchzuhören?“ Er hatte bewusst nicht ‚gute alte Zeiten‘ gesagt.
Zwanzig Minuten später standen die Rosen in einer IKEA-Vase, Peer und Meike hatten zwei Gläser Tempranillo gekippt und tanzten Klammerblues zu „Always“ von Bon Jovi.
Wie wird ein Mensch zu einem Monster? Was bringt jemanden dazu, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, sie so lange zu quälen, bis sie ihren letzten Widerstand aufgeben und froh sind, endlich sterben zu dürfen? Die Sat-1-Doku mit dem reißerischen Titel „Die Bestie in mir“ betrieb Ursachenforschung, stellte Fragen an sogenannte Experten. Verhaltenspsychologen, Profiler und Neurologen standen Rede und Antwort und versuchten, Licht ins Dunkel zu bringen. War Charles Manson bereits als Baby böse? Karl Ressler hatte eine Schüssel Barbecue-Nachos und ein Weizenbier vor sich und schmunzelte. Den letzten Schrei von Silke hatte er vor gut zwei Stunden gehört. Entweder war sie vor Erschöpfung eingeschlafen oder die Messer hatten ihr bereits den Rest gegeben, wobei er eigentlich die Anordnung so konzipiert hatte, dass es noch Stunden dauern musste, bis sie den entscheidenden Stoß verabreicht bekommen sollte. Nun, er musste ohnehin zur Toilette, da konnte er ja auch mal einen Blick in sein Spielzimmer werfen.
Karl legte fast zärtlich ein Ohr an die Tür und lauschte. „How deep is your love?“ klang es aus dem Raum, Karl musste sich ein paar Tränen verdrücken. Dieser Song hatte eine fast magische Wirkung auf ihn. Als Take That sich an „How Deep Is Your Love?“ vergingen, war Karls Wut so groß, dass er eines Nachts bei „Jellineks Record Store“, dem größten CD-Händler im Kreis Unna, einbrach und sämtliche Take-That-Alben kurz und klein schlug.
Silke lag flach atmend auf dem Bett. In ihrer linken Wade steckte immer noch das erste Messer, die Wunde um die Einstichstelle herum sah mittlerweile entsetzlich aus. Immer wieder trat frisches Blut hervor, gemischt mit einer hellen, eitrigen Flüssigkeit. In ihrer rechten Schulter steckte ein zweites Messer, das keine größeren Gefäße verletzt hatte. Karl blickte nach oben zur Decke. Das nächste Messer würde, wie er es ganz richtig berechnet hatte, Silkes Unterleib treffen. Die Wunde würde zwangsläufig dazu führen, dass sie langsam ausblutete …
In diesem Moment erwachte Silke und sah ihn an. Ihr Blick war stark, hatte nichts von Unterwerfung, kein Flehen war in ihren Augen zu sehen. „Ich werde dich niemals in Ruhe schlafen lassen, du widerwärtiges Stück Scheiße! Und auch dann, wenn ich das hier nicht überlebe, wird meine Seele wie ein Damoklesschwert über dir baumeln. Du wirst mein Gesicht niemals vergessen, Karl Ressler!“ Woher wusste sie seinen vollen Namen? Karl hatte ihn nie erwähnt; für einen kurzen Moment beschlich ihn blanke Panik. Wie von Sinnen knallte er die Tür zu und rannte die Treppe hinunter in Richtung Wohnzimmer. Durch die Erschütterung lösten sich drei Messer auf einmal und trafen Silke in Brust, Bauch und Unterleib. Als Karl sie am nächsten Morgen bestrafen wollte, war Silke längst tot. Zum ersten Mal empfand Karl kein Hochgefühl, keinen Triumph, sondern eher einen dumpfen Schmerz, der ihn kurzzeitig ohnmächtig werden ließ.
Der Tempranillo hatte bei Modrich wieder mal Wirkung hinterlassen: Er fühlte sich erbärmlich, hatte einen Schädel wie ein Rathaus und schlimme Schweißausbrüche. Meike war um zwei Uhr nachts gegangen, außer Klammerblues war da nichts – und das war auch gut so. Seinen morgendlichen Mundgeruch wollte er keiner Frau zumuten. Und ja: Am liebsten wäre er noch mindestens zwei Stunden im Bett geblieben; schließlich hatte er immer noch keinen Ibuprofen-Nachschub gekauft. Aus diesem Grund tobte Morbus Meulengracht mit all seiner Kraft in seinem maladen Körper. Das Klingeln seines Diensthandys hatte ihn allerdings jäh aus dem Schlaf gerissen. „Peer, du musst sofort ins Büro kommen.“ Guddis Stimme klang extrem beunruhigt. „Ein Mädchen wird vermisst! Möglicherweise haben wir es mit einem Serientäter zu tun.“ Modrich hatte ungefähr drei Meter bis zum Bad zurückzulegen. Und obwohl er all seine Kraft aufbrachte, klappte er unmittelbar vor dem Badezimmer zusammen und übergab sich auf dem weißen Flokati. „Ich fürchte, wir haben es mit einem alten Bekannten zu tun. Scheiße, scheiße, schei-ße!“, fluchte er. Beim letzten „Scheiße“ schien sein Kopf in tausend Stücke zu zerspringen, Modrich fühlte den hämmernden Puls an seiner Schläfe und schwitzte unmenschlich. „Hangover galore“, räusperte er sich. Im Moment konnte ihm nichts helfen, außer vielleicht eine Tablette und absolute Ruhe. Augen zu und warten, bis der Schmerz aufhörte. Dazu hatte er leider keine Zeit. Es half also nichts: Er hielt seinen Kopf unter eiskaltes Wasser, trocknete sich die Haare, schlüpfte in die Klamotten vom Abend zuvor, zog seine Sneaker an und torkelte die Haustreppe hinunter. Restalkohol im Blut? Jede Wette, aber Modrich hatte keine Wahl. Die Pflicht rief lauter, als er es in diesem Moment vertragen konnte.
Ressler hatte die Spuren, die seine Messer hinterlassen hatten, und die Leiche von Silke Brodner beseitigt. So sauber und gründlich wie nie zuvor, dafür war ihm das Ganze zu nahe gegangen. Die berühmten letzten Worte seines jüngsten Opfers echoten unentwegt in seinem Kopf, deshalb musste er diesmal ganze Arbeit leisten, damit die Polizei, die früher oder später vorbeikommen und seine Wohnung auf den Kopf stellen würde, nichts Verwertbares fand. Den Häcksler hatte er sicherheitshalber zusammen mit einer Fuhre Hausmüll auf dem nahegelegenen Wertstoffhof entsorgt.
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