Es war ihr alles zu schnell gegangen. Karl hatte bereits nach wenigen Sekunden seine Hand in ihrem Schritt und begann zu sabbern. Es war widerwärtig, und Silke hatte sehr, sehr schnell eingesehen, dass es eine Fehlentscheidung war, mit diesem Freak mitzugehen. Er hieß offenbar Karl Ressler, wenn das Namensschild an der Haustür nicht log. Allerdings, und das war das eigentliche Problem, war dieser Freak sicher vierzig Kilo schwerer und zwei Köpfe größer als sie. Ihm mit physischer Kraft entgegenzutreten, war also von vornherein zum Scheitern verurteilt. So versuchte sie es mit Worten: „Hey Cowboy, zieh mal die Handbremse. Wir haben doch noch die ganze Nacht!“ „Du hast recht! Trinken wir auf diese Nacht. Möge sie für uns beide unvergesslich werden!“ Silke leerte das Sektglas in einem Zug und bemerkte dabei, dass sich Karls flirrender Blick zu einer Grimasse verzog.
Die Wirkung der K.-o.-Tropfen setzte schneller ein, als Karl es erwartet hatte. Um ein Haar wäre sein Opfer mit dem Hinterkopf auf den kleinen Marmortisch in seinem Schlafzimmer geknallt und dann wäre es womöglich vorbei gewesen mit der „unvergesslichen Nacht“.
„Was hast du mit mir vor, du Scheusal?“ Karl stakste durch den Raum und ahmte eine helle, panische Frauenstimme nach. Er brach in schallendes Gelächter aus. „Ja, was habe ich wohl mit dir vor …?“ Nachdem Silke das Bewusstsein verloren hatte, legte Karl „Massachussettes“ auf, entledigte sich seiner Kleidung und verging sich an seinem wehrlosen Opfer. Das Gefühl der Macht, das er dabei empfand, war das schönste, das vollkommenste, was Karl jemals erlebt hatte. Er konnte sie biegen wie eine Puppe, konnte ihr Dinge ins Ohr flüstern, sie anschreien, sie schlagen. Was auch immer er tat: Niemand widersprach, niemand leistete Widerstand. Als Barry Gibb den Refrain sang, explodierte Karl und hatte Tränen in den Augen.
Karl stand breitbeinig über Silke und hatte ihr den Rücken zugewandt. Den Messerblock hatte er vor sich aufs Bett gestellt. Nach und nach nahm er die Messer heraus und warf sie, mit gleichbleibendem Schwung, in Richtung Decke. Silke beobachtete das Ganze mit einem immer konkreter werdenden Gefühl von Ohnmacht und Panik. Zwei der Messer prallten von der Decke ab und fielen zurück. Dabei verfehlten sie Karl nur um Haaresbreite. „Eieiei,“ gluckste er, „das wäre fast ins Auge gegangen. So eine Keramikklinge kann böse Wunden verursachen“. Mit höhnischem Gelächter zielte er erneut und warf die beiden Messer abermals Richtung Decke. Diesmal blieben sie stecken. Als Karl vom Bett hinabstieg, hatte Silke freie Sicht auf sein perfides Werk. Die Messer steckten, ovalförmig angeordnet, allesamt in der Holzdecke, direkt über dem Bett, in dem Silke hilflos lag. Wie lange würde es wohl dauern, bis sich die Schwerkraft des ersten Messers bemächtigte?
„Ich werde für ein paar Tage verreisen“, säuselte Karl. „Die letzten Tage waren sehr anstrengend für mich. Du warst nur eine von vielen Kandidatinnen für das hier; letzten Endes hast du mir bei der finalen Entscheidung sehr geholfen. Dafür hab ich mich ja auch schon erkenntlich gezeigt … gewissermaßen. Wie du an den Einstichlöchern in der Decke unschwer erkennen kannst, habe ich diese ,Fallstudie‘ hier schon einmal praktiziert. Das arme Tier sah danach ziemlich schlimm aus. Es hat fast 48 Stunden gedauert, bis das entscheidende Messer hinabgefallen ist und den finalen Stoß gesetzt hat. Ich habe heute versucht, die Anordnung der Messer und die Tiefe der Löcher so hinzukriegen, dass es bei dir nicht ganz so lange dauert. Schließlich bist du kein Tier und warst mir eine wirklich gute Tanzpartnerin. Nun denn: au revoir, cherie!“ Die Tür fiel wenig später wuchtig ins Schloss und löste das erste Messer, das sich in Silkes Wade bohrte.
Peer Modrich hatte richtig beschissen geschlafen. Wahrscheinlich war es wieder mal eine Kombination aus zu viel Dosenbier, einem halben Dutzend selbstgedrehter Zigaretten und dem Vollmond. Wenn das jemals rauskommen sollte, würden die Kollegen auf seinem Revier noch mehr Gründe haben, ihm dumme Sprüche zu schieben. Aber es stimmte: Modrich war in Sachen Schlaf kein typischer Kerl. Er konnte sich, im Vergleich zu vielen seiner Kollegen und Freunde, nicht einfach so ins Bett legen und bereits nach Sekunden in den Schnarchmodus umschalten. Zu oft zog der Tag noch mal an seinem inneren Auge vorbei und brachte ihm Bilder zurück, die er zum Einschlafen nicht brauchen konnte. Und wenn dann noch der Vollmond in sein Zimmer schien, ging gar nichts mehr. Deshalb versuchte Modrich es regelmäßig mit einer moderaten Alkohol- und Nikotindröhnung. Hansa-Pils aus Dosen war da vielleicht nicht das ideale Schlafgetränk, aber der Kiosk um die Ecke hatte um kurz nach Mitternacht einfach keine Alternative parat. Modrich wusste in dem Moment, als er das erste Bier ansetzte, bereits, dass er am kommenden Morgen einen amtlichen Kater haben würde. „Morbus Meulengracht“ war der Grund dafür. Sein Hausarzt hatte bei einer Routinekontrolle festgestellt, dass einer seiner Leberwerte nicht korrekt war. „Aber seien Sie beruhigt“, hatte er weiter ausgeführt, „dieser Wert ist nicht lebenswichtig. Im Gegenteil: Menschen mit dieser Krankheit werden zwangsläufig nicht mehr soviel trinken und rauchen, weil ihre Leber die Giftstoffe einfach nicht so abbaut wie bei normalen Menschen.“ Modrich wusste seitdem, dass er entweder nach zwei Bier und drei Zigaretten mit einem Megakater aufwachen würde oder sich vor dem Zubettgehen eine Ibuprofen einwerfen musste, um am nächsten Morgen keine Nachwehen zu verspüren. Tabletten waren aus, darum fühlte er sich jetzt wie ausgekotzt, als sein Telefon läutete. „Meike Ressler.“ Modrich spürte, wie sich sein Magen umdrehte, und erbrach sich auf dem Wohnzimmerteppich. „Modrich, alles in Ordnung?“ „Jetzt wieder“, röchelte er in den Hörer. „Kann ich dich gleich zurückrufen? Ich müsste hier mal eben … sauber machen.“ „Karl ist wieder aktiv! Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, ihn und sein neues Opfer aufzuspüren, aber nach dem letzten Telefonat mit ihm würde ich meinen, dass in diesem Moment irgendwo da draußen ein Mädchen elementare Probleme hat.“ Modrich legte auf.
Zwei Stunden später traf sich Modrich mit Meike Ressler bei Amalfi, seinem Stammitaliener. Seltsamerweise überkam ihn, nachdem sich sein Magen einmal auf links gedreht hatte, ein übermächtiges Hungergefühl, sodass er bei Costa, seinem Lieblingskellner, seine übliche Ration Penne Bolognese bestellte. „Einen guten Italiener erkennt man nicht an seinem Ambiente“, erklärte er Meike, „sondern an den Basics. Wenn die Pizza Funghi und die Penne Bolognese nicht schmecken, taugt der ganze Italiener nix.“ Meike schmunzelte: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du letzte Nacht zu viel getrunken hast.“ Meike und Peer hatten sich in den Sommerferien kennengelernt. Das diakonische Werk in Oer-Erkenschwick bot in jenem Sommer Jugendfreizeiten für drei verschiedene Altersgruppen an. In dem Jahr, als Peer und Meike sich zum ersten Mal begegneten, ging es nach Wagrain in Österreich. Peer war in der jüngsten Gruppe, Meike in der ältesten. Trotz seiner zarten elf Jahre hatte Peer erstaunlicherweise bereits einen gewissen Schlag bei heranwachsenden Frauen. Meike hatte jedenfalls einigermaßen überrascht beobachtet, wie Peer abends am Lagerfeuer, während das Stockbrot gegrillt wurde, mit seiner Betreuerin Iris Händchen hielt. Immerhin war sie sechs Jahre älter und sah auch so aus. „Was ist eigentlich aus Iris geworden?“ Modrich blickte äußerst sparsam aus der Wäsche, hatte er mit dieser Frage offenbar nicht gerechnet. „Du meinst die Betreuerin aus der Freizeit? Oh Mann, das ist ja ewig her. Wir haben uns noch ein paar Mal Briefe geschrieben. Irgendwann hat sie dann wohl einen Gleichaltrigen gefunden, mit dem sie … na ja, du weißt schon. Ich war damals ja erst elf. Da klappte es zwar in der Theorie, aber noch längst nicht in der Praxis.“ Jetzt mussten sie beide lachen, was offenbar Meikes Appetit anregte. Sie bestellte sich bei Costa Bruschetta als Vorspeise und eine große Pizza mit Meeresfrüchten. „Karl hat mich gestern angerufen und mir erzählt, dass er wieder ‚aktiv‘ ist. Ich wollte dich direkt darüber informieren, aber auf deiner Durchwahl sprang nur die Mailbox an. Wir hatten damals, bevor er in die Psychiatrie ging, vereinbart, dass er mich immer auf dem Laufenden hält, sobald er Veränderungen an sich bemerkt. Diesmal ist es anders …“ Meike blickte Peer ernst an. „Er hat offenbar wieder Spaß daran gefunden. Bislang regulierten die Medikamente seinen nicht zu kontrollierenden Trieb. Ich vermute, er hat sie eigenständig abgesetzt.“
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