Jetzt aber steckte sie in der Patsche. So wohlig es sich anfühlte, seine Lippen auf den ihren immer noch zu spüren, Fakt war: Der letzte Bus Richtung Werl war soeben vor ihren Augen weggefahren. Sie stand einsam und alleine an einer unbeleuchteten Landstraße und wusste nicht, wohin.
„Ich kann dich ein Stück auf meinem Fahrrad mitnehmen!“ Aus der Ferne rollte ein nur schwach beleuchtetes Herrenrad auf sie zu. Sie kannte den Typen. Das war doch dieser Ressler, den alle so widerlich fanden. Man hatte ihn dabei beobachtet, wie er seine Popel und sein Ohrenschmalz genüsslich aß. Ihr Vater meinte, dass Ressler einer ist, den die anderen früher immer als Letzten in die Schulmannschaft gewählt haben und den man gern mal einfach so boxte, schubste oder kopfüber in den Mülleimer steckte. Nun rächte sich Karl an Simones Vater. Den Baseballschläger nahm Simone nur schemenhaft wahr. Um sie herum erlosch das spärliche Licht, als ihre Schädeldecke durch die Wucht des Aufpralls zerbarst.
Karl summte den Refrain von „Night Fever“, als er ihren leblosen Körper ins Gebüsch zog.
Der Wecker klingelte unerbittlich. Binzer, ein vier Jahre alter Deutsch-Drahthaar, schleckte seinem Herrchen genüsslich durchs Gesicht. Carsten Bröhler empfand die feuchte Zunge seines Hundes als Wohltat, der Mundgeruch des Rüden war allerdings eine Zumutung. „Binzer, du blöder Hund, sieh zu, dass du Land gewinnst, ist ja eklig!“ Binzer trollte sich, Bröhler war nun wach und steuerte aufs Bad zu. Er pinkelte gefühlte drei Minuten, die vierzehn Bier vom Vorabend mussten raus. Der Pelz auf seiner Zunge war eine Mischung aus Knoblauch, Kippen und Ouzo. Wieder mal hatte das opulente Mahl bei seinem Stammgriechen um die Ecke seine Wirkung getan. Nikos, der Besitzer der „Taverna Saloniki“, musste immer schmunzeln, wenn Bröhler den „Saganaki-Teller“ mit weniger Knoblauch bestellte. Spätestens in dem Moment, als Emorfia, Nikos’ Frau und Kellnerin, ihm den Teller auf den Tisch knallte, war klar, dass die Botschaft wieder mal nicht angekommen war. ‚Egal jetzt‘, dachte Bröhler, ‚der Hund muss raus! Ab unter die Dusche.‘
Binzer zog wie immer heftig. Bröhler konnte deutlich sehen, dass sein Hund dringend mal musste. „Drei Pfund ohne Knochen“ war Bröhlers Synonym für das, was in wenigen Sekunden seinen Hund druckvoll verlassen sollte. Dabei zog Binzer immer dasselbe Gesicht, gerade so, als sei es ihm peinlich, von seinem Herrchen in dieser Situation gesehen zu werden. Bröhler leinte seinen Hund ein Stück weiter ab, atmete die frische Morgenluft ein und ging seines Weges. Um diese Uhrzeit war das kleine Waldstück an der alten B1 bei Hemmerde menschenleer – was gut war, denn eigentlich durfte Binzer hier nur an der Leine geführt werden. Und er, das heißt sie, also Binzer und Bröhler, hassten angeleinte Hunde, die von ihren Herrchen oder Frauchen kurz gehalten wurden, weil sie gerade ‚etwas schwierig im Umgang mit anderen Hunden‘ waren. Bröhler hatte es noch nie erlebt, dass Binzer sich mit einem frei laufenden Hund zoffte. Sobald ihm aber ein Artgenosse an der Leine entgegenkam, sah er rot. Und der andere meistens auch. Einmal musste Bröhler dazwischengehen, weil der andere Hund, ein prächtiger Ridgeback mit 55 Kilo Lebendgewicht, sich in Binzers Hals verbissen hatte. Dem Frauchen des Ridgebacks geriet die Situation komplett außer Kontrolle, sie war den Tränen nah. Bröhler schritt ein und versuchte, die beiden ineinander verkeilten Rüden zu trennen. Dabei biss ihm sein eigener Hund so unglücklich in die Hand, dass diese noch am selben Tag mit sieben Stichen genäht werden musste. Binzer selbst jaulte nach Bröhlers Faust-Reflex laut auf und blutete an der Stelle, in die sich der Ridgeback verbissen hatte, konnte aber am selben Abend bereits wieder seine berühmten drei Pfund ohne Knochen abseilen.
„Binzer, hier!“ Als Jagdhund hatte Binzer wenig mit Stöckchenapportieren am Hut. Als Joggingpartner war er ebenfalls gänzlich ungeeignet. Sobald Bröhler ihn ableinte, legte Binzer seine Nase auf den Boden und schnüffelte sich durchs Unterholz. So auch heute.
Der Mann, der an diesem wunderschönen Tag ins Polizeirevier Unna kam, hatte entweder den Leibhaftigen gesehen oder sich den Magen mit Ente süßsauer ruiniert. Polizeiobermeister Peter Lücke wurde etwas blümerant, als er Carsten Bröhlers Gesicht sah. Der Hund, den er an der Leine führte, hatte Blutspuren an den Pfoten und um die Schnauze herum. ‚Ein prächtiges Tier‘, dachte Lücke. „Sie müssen dringend mitkommen, bitte!“, stammelte Bröhler. „Eine Mädchenleiche, draußen im Forst … ihr Gesicht ist …“ Er erbrach sich vor den Füßen des Polizeiobermeisters.
Der Sex letzte Nacht war gut. Wirklich gut. Wann hatte er das letzte Mal … ein zutiefst angenehmer Nachklang der Erregung durchzog ihn. Neben ihm lagen seine beiden Eroberungen des letzten Abends. Sie mochten höchstens Mitte zwanzig sein, die eine hieß Sanja, den Namen der zweiten hatte er vergessen. Egal, Modrich hatte seinen Spaß gehabt. Mehr noch: Er hatte sich und der ganzen Welt, also zumindest der Welt, in der er sich am vergangenen Abend aufgehalten hatte, bewiesen, dass ein Mann seines Alters noch durchaus attraktiv auf das weibliche Geschlecht wirken konnte. Natürlich war er mit seinen 42 Jahren noch nicht ganz raus aus dem Rennen, wenn es um Frauen ging, aber die Frotzeleien unter seinen Kollegen auf dem Revier waren schon bemerkenswert. Immerhin war Peer Modrich seit fünf Jahren Single, und die Zeit, eine neue Beziehung aufzubauen, hatte er als Chef der Sitte einfach nicht. Zu viel Dreck stapelte sich tagein, tagaus auf seinem Schreibtisch. Die Welt war wie ein Katzenklo, lautete eine seiner Lebensweisheiten. Auch wenn du es noch sooft säuberst, den fiesen, säuerlichen Geruch kriegst du einfach nicht raus.
Er hatte in seiner Karriere bislang knapp 80 % aller Verbrechen aufklären können, darunter den Fall des Familienvaters aus Hamm-Uentrop, der jahrelang seinen Neffen missbrauchte, gleichzeitig aber mit seiner Frau und den beiden Söhnen ein geradezu vorbildliches Leben führte. Der schöne Schein war es, der den Ermittlern des Öfteren einen Streich spielte, wenn es um die Aufklärung von Sexualstraftaten ging. Man sah es ihnen einfach nicht an. Die Frau des Hammer Familienvaters rammte ihrem Ehemann ein Brotmesser ins Bein, als sie von seinen Eskapaden erfuhr. Heute sitzen sie beide ein, die beiden Söhne wachsen bei Verwandten auf, die heile Familienwelt ist unwiderruflich zerstört.
Modrich wollte seine Hand auf den Hintern von Sanjas Freundin legen, als das Telefon klingelte. „Mädchenleiche im Hemmerder Forst“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, ehe sie sich als Polizeiobermeister Peter Lücke identifizierte.
„Mädels, aufstehen!“, rief Modrich seinen beiden Eroberungen zu und klatschte in die Hände. Sanja und ihre Freundin schreckten hoch, rieben sich zeitgleich den Schlaf aus den Augen und rollten sich aus dem Bett. Dabei rutschte Sanja das seidene Unterhemd hoch. Modrich bemerkte das und war für einen Moment versucht, wieder zurück ins Bett zu hüpfen und die nächste Runde einzuläuten. „Können Friedi und ich wenigstens noch ’nen Kaffee trinken?“ Friedi, richtig. Kurzform von Friederike – hatte sie Modrich noch in epischer Breite am Abend vorher erklärt. Offenbar hatte er da schon nur noch Augen für ihre malerischen Brüste gehabt, die er im Laufe der Nacht fortwährend liebkost hatte. „Tut mir echt leid, aber ich muss sofort los. Packt eure Sachen zusammen und dann raus! Ich melde mich bei euch.“
Am Tatort kam ihm seine Kollegin Gudrun Faltermeyer entgegen. Guddi, wie er sie nannte, war Mutter von Zwillingen und sah wieder einmal grenzenlos übernächtigt aus. Da half auch der Pott mit schwarzem, starkem Kaffee nicht, den sie zu sich nahm, als sei er Medizin. „Was haben wir hier?“ „Simone Breisig, vierzehn Jahre alt. Jemand hat ihr den Schädel mit einem stumpfen Gegenstand zertrümmert und sich dann an ihr vergangen … kein schöner Anblick!“ „Irgendwelche Hinweise auf den Täter?“ Guddi hob die Augenbrauen: „Oh ja, jede Menge sogar. Die Spurensicherung klaubt gerade alles zusammen. Scheint eine spontane Tat gewesen zu sein. Allerdings: Wir haben das hier bei der Leiche gefunden.“ Modrich schaute einigermaßen ratlos auf die Schallplatte. „Saturday Night Fever? Die Bee Gees als Begleitmusik für ein Kapitalverbrechen? Seltsam. Sind die Angehörigen informiert?“ „Nein“, erwiderte Guddi, „sie wohnen keine fünf Kilometer von hier in Werl. Bernd und Manuela Breisig. Ich hasse diesen Job.“
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