Meike Resslers Telefon klingelte. Manche Menschen bilden sich ein, bereits am Klang des Telefonklingelns drohendes Unheil wahrnehmen zu können. Meike gehörte nicht zu dieser Spezies, trotzdem zog sich für einen kurzen Moment ihr Magen zusammen. „Ich bin’s, Karlchen!“ Meike Ressler hatte ihren Bruder immer geliebt, auch nach seinen Taten damals. Das hatte weniger mit dieser „Blut-ist-dicker-als-Wasser“-Theorie als vielmehr damit zu tun, dass Karl ihr das Leben gerettet hatte. Er war damals neun, als seine 14-jährige Schwester um ein Haar beim Schwimmen im Halterner Baggersee ertrank. Ein simpler Wadenkrampf war es, der Meike in die Tiefe zog. Karl hatte damals bereits sein Gold-Abzeichen und erkannte die Situation noch vor seinen Eltern. Ohne zu zögern und mit bewundernswerter Geschwindigkeit schwamm er zu seiner hilflos röchelnden Schwester und erwischte sie gerade noch an ihren langen, lockigen Haaren. Und obwohl Meike damals fast 15 Kilo mehr wog, schaffte Karl es fast mühelos, Meike ans rettende Ufer zu bringen. Er war der Held des Tages, sogar eine Tageszeitung brachte einen Artikel über ihn. Natürlich waren auch seine Eltern unbeschreiblich stolz. Das Entscheidende jedoch war: Meike würde immer in seiner Schuld stehen.
„Die Bee Gees haben einen neuen Song geschrieben. Nur für mich, Meike! Ist das nicht toll?“ Karls Stimme zitterte. „Karl, wo steckst du? Bist ja ganz aufgewühlt!“ Meike versuchte, die Ruhe zu bewahren. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Bruder. Sie versuchte, weitere Informationen aus ihm herauszukriegen. „Es ist ein ziemlich trauriger Song, Meike. Ich singe ihn immer, wenn ich ein böser Junge war. Zur Beruhigung.“ Er legte auf. Meike legte den Telefonhörer zur Seite. Ihre Hände zitterten. Ihr schlimmster Albtraum war zurückgekehrt und schien wahr zu werden. Sie überlegte fieberhaft. Felix Modrich war längst im Ruhestand, aber hatte sie nicht unlängst erfahren, dass sein Sohn Peer nun das Dezernat Sitte leitete? Wie gut, dass Meike alle polizeilichen Dienststellen in ihrem Adressbuch gespeichert hatte. Hastig wählte sie Peers Nummer. Der Kreis schien sich endgültig zu schließen.
Bernd und Manuela Breisig schienen eine Vorahnung zu haben. Als Modrich und Faltermeyer an der Tür klingelten, hörten sie von innen bereits das leise Schluchzen der Mutter. „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter heute Morgen tot aufgefunden wurde. Offenbar wurde sie Opfer eines Gewaltverbrechens.“ Modrichs Worte perlten wie an einer unsichtbaren Glaswand ab. Simones Eltern starrten ins Leere, ihre Mimik war schwer zu deuten. Plötzlich fiel der Vater vornüber auf den Treppenabsatz vor dem Haus, Modrich konnte ihn nur mit Glück davor bewahren, dass er sich den Schädel an der Treppenkante aufschlug. Er war ohnmächtig, Speichel lief ihm aus dem rechten Mundwinkel. Manuela Breisig wirkte gefasster: „Ich wusste immer, dass so etwas mal passieren würde. Simone trieb sich gern spät in der Nacht herum; offenbar hatte sie Spaß daran, mit dem Feuer zu spielen. Mein Mann hat sie dann immer vor mir verteidigt. Ich hätte der kleinen Schlampe öfter mal den Hintern versohlen sollen!“ Modrich und Faltermeyer sahen sich an und zogen die Augenbrauen fast synchron hoch. Die Szene hatte etwas Absurdes.
„Ich habe keinen Bock mehr auf den Scheißkerl!“ Silke hatte Tränen in den Augen. Sie saß mit ihren besten Freundinnen in ihrer Stammkneipe in Bochum. Seit zweieinhalb Stunden war Arndt das beherrschende Thema. Silke war mit ihm jetzt schon achtzehn Monate zusammen, für ein Mädchen von gerade mal zwanzig Jahren war das eine reife Leistung. Ihre Freundinnen beneideten sie – anfangs zumindest, denn Arndt war ein Bild von einem Mann: 1,90 m groß, halblanges dunkelblondes Haar, das er immer lässig mit Haarwachs zurücklegte. Und er war bestimmt zehn Jahre älter als Silke. Sie hatte ihn nie gefragt. Die Gewissheit, dass es so war, hatte Arndt für Silke umso begehrenswerter gemacht. Er war schlank, aber trotzdem sportlich, hatte – soweit man das beurteilen konnte – gute Manieren und war – soweit Silke das beurteilen konnte – ein leidenschaftlicher Liebhaber. Seit ein paar Wochen war allerdings irgendwie der Wurm drin. Arndt war drei Monate in Schweden gewesen, sein Job als Salesmanager brachte es so mit sich. Silke hatte in diesem Zeitraum mehrere dubiose SMS-Nachrichten von ihm erhalten, in denen er von einer Frau schrieb, mit der er fast täglich zu tun hatte. Offenbar war das die Anwältin der Firma, mit der er zukünftig Geschäfte machen wollte. Wie sich herausstellte, war sie fünfzehn Jahre älter als Arndt und hatte ihn nach allen Regeln der Kunst verführt. Feststellen ließ sich dies für Silke erst, als Arndt – nachdem er bereits zwei Wochen zu Hause war – immer noch keine rechte Lust auf Silke zu verspüren schien. „Raus mit der Sprache“, legte sie plötzlich los, „was ist da mit dir und dieser Anwältin gelaufen?“ Die Antwort „Es war nur Sex“ und Silkes schallende Ohrfeige erfolgten quasi zeitgleich. Natürlich hatte sie irgendwie immer damit rechnen müssen, dass ein Mann von Ende zwanzig nicht auf ewig mit einem deutlich jüngeren Mädchen zusammenbleiben würde, aber auf diese schäbige Art und Weise wollte sie nun doch nicht abserviert werden.
Sie sah Karl im hinteren Teil der Kneipe sitzen. Ihre Blicke hatten sich jetzt ein paar Mal gekreuzt. Irgendetwas Flirrendes lag da in seinen Augen. Nicht, dass es ihr scheißegal war, mit wem sie es Arndt heimzahlen würde, aber dieser Knilch da hinten war weit weg von einem, „mit dem man es mal probieren könnte“. Sarina, ihre beste Freundin, war sehr lax in ihrer Einstellung zu Sex, Verhütung und dem ganzen Drumherum. Sie wollte, bis sie zwanzig war, „so viele Kerle ins Bett kriegen, wie sie Haare an der Muschi hatte“. Immer, wenn sie diesen Spruch raushaute, kiekste die Mädelsrunde und lief der Reihe nach rot an. Sarina war nämlich „untenrum glatt wie ein Babypopo“, was ihrer vorherigen Bemerkung eine gewisse Süffisanz verlieh.
Irgendetwas Flirrendes. Egal, sie musste heute noch was erleben. Am besten etwas Handfestes. Etwas, das ihr noch Wochen später die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, wenn sie sich daran erinnerte. Silke war nun soweit: Dieser geheimnisvolle Unbekannte sollte es werden. Heute Nacht! Wenn Arndt es mit einer MILF treiben konnte, warum sollte sie dann nicht auch mit einem, sagen wir mal, etwas reiferen Herrn in die Kiste springen? „Geht schon mal vor!“, rief sie ihren Freundinnen zu. „Ich hab hier noch was zu erledigen.“ Sarina klatschte Silke ab: „Treib’s nicht zu doll … ach was: Leg einfach noch ’ne Schippe drauf!“
Karl Ressler sollte in dieser Nacht ein Experiment wagen, das er nun zum ersten Mal an einem Menschen ausprobierte.
Als sie erwachte, lag Silke gefesselt und geknebelt auf einem Bett in einem abgedunkelten Raum. Die Schmerzen in ihrem Kopf waren kaum auszuhalten; entweder sie hatte deutlich zu viel Alkohol intus oder jemand hatte ihr … da ging die Tür auf und Karl Ressler stand vor ihr. Er grinste triumphierend. Silke konnte, nachdem sie ein paar Mal gezwinkert hatte, wieder einigermaßen klar sehen und erkannte in seiner linken Hand einen Messerblock. „Du krankes Schwein“, wollte sie sagen, aufgrund des Knebels in ihrem Mund kamen allerdings nur ein paar zusammenhanglose Gutturallaute heraus. „Na, na, wer wird denn gleich so aus der Haut fahren?“, rügte Karl sie. „Immerhin hatten wir in der letzten Nacht doch jede Menge Spaß, und ich finde, du solltest dich etwas dankbarer zeigen, hm?“ Silke verspürte ein Brennen zwischen ihren Beinen; je mehr sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, umso schlimmer wurden die Schmerzen. Vor allem aber erinnerte sie sich nun Stück für Stück immer deutlicher an das, was letzte Nacht vorgefallen war.
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