Also auch für den Fall eines »bedeutenden« Gefälles der Produktivität wieder das Argument, für ein Land (eine Nationalökonomie) sei der arbeitsteilige wechselseitige Austausch zweier verschiedener Waren mit einem anderen Land unter allen Umständen und auch dann von Vorteil, wenn es beide Waren selber produktiver herstellen kann, aber in unterschiedlichem Grad.
Ricardo macht hier nebenbei eine weitere klammheimliche Voraussetzung, indem er die beiden Nationalökonomien idealtypisch als »zwei Menschen« definiert, die als unabhängige Produzenten auftreten, und so tut, als könne man diesen Sachverhalt auf die wirklichen Individuen in diesen Nationalökonomien herunterrechnen – während es sich in Wirklichkeit der Mehrzahl nach um Lohnabhängige handelt, die keineswegs als unabhängige Produzenten in biblischer Manier Wein und Tuch austauschen, sondern ihre Arbeitskraft gegen Geld (Kapital) eintauschen müssen, also bloßes Material des betriebswirtschaftlichen Verwertungsprozesses sind.
Was passiert nun unter den wirklichen Bedingungen des kapitalistischen Verwertungsprozesses beim Warentausch zwischen Nationalökonomien mit unterschiedlicher Produktivität? Selbst wenn die naturale Proportionalität des arbeitsteiligen Gütertauschs auf der abstrakten nationalökonomischen Ebene stimmen würde, heißt das keineswegs, dass sie auch auf der Ebene der abstrakten Wertverhältnisse und der angewendeten Lohnarbeit stimmen muss. Wenn das eine Land die Tuchproduktion einstellt, um sich auf Wein zu spezialisieren, geht dies ja weder innerhalb der eigenen Nationalökonomie noch im Verhältnis zur anderen, Tuch produzierenden, in der Form freiwilliger und alle Beteiligten berücksichtigender Absprachen vor sich, sondern in der Form der blinden Konkurrenz und ihrer Resultate, also in der Form des Ruins der eigenen Tuchproduktion (wie es Ricardos Zeitgenossen real erlebten). Wenn nun eine entsprechende Menge von Kapital in die zusätzliche Weinproduktion fließt, damit der Austausch mit dem Tuch stattfinden kann, heißt dies keineswegs, dass automatisch die in der Tuchproduktion freigesetzten Lohnarbeiter in die Weinproduktion überführt werden, und wenn, dann nicht automatisch zu denselben Bedingungen von Lohn usw. Was also für die nationalökonomischen Austauschverhältnisse postuliert wird, geht an der Lage der wirklichen Individuen vorbei.
Aber auch nationalökonomisch gesehen trifft Ricardos Argument, sobald man von den naturalen auf die Verwertungs-Verhältnisse übergeht, nur dann zu, wenn der Abstand in der Produktivität ein bestimmtes Ausmaß nicht überschreitet und sich auf den Umkreis weniger Waren beschränkt. Stets muss das weniger produktive Land im Austausch mit dem produktiveren relativ mehr Arbeits- und damit Wertmengen (bezogen auf den eigenen Standard) hergeben als es in Gestalt der anderen Ware zurück erhält. Da aber im kapitalistischen Sinne stets der abstrakte Wert das bestimmende Moment ist, das sich in Geldpreisen ausdrückt, heißt das nichts anderes, als dass es beim Tausch dieser Waren ständig relativ teurer einkaufen muss, als es verkaufen kann, was nichts mit der naturalen Menge von Gebrauchsgütern zu tun hat.
Das wird vielleicht hingenommen werden, wenn dafür z.B. eine relativ größere Menge an Tuch verbraucht werden kann, als sie im eigenen Land zu eigenen Bedingungen herstellbar wäre; allerdings ist dieser Verbrauch dann sozial viel ungleicher verteilt als im Land mit der höheren Produktivität: Das fremde Tuch kann nur unter der Bedingung gegen einen relativ höheren Arbeitsaufwand bei der eigenen Weinproduktion gegen Wein als Äquivalent ausgetauscht werden, dass die Lohnarbeit in der Weinproduktion entsprechend relativ niedriger bezahlt wird und sich der Produktivitätsabstand auf deren Kosten wertmäßig ausgleicht. Da dies jedoch wieder negative Rückwirkungen auf die übrige binnenökonomische Reproduktion hat (Ausfall von Kaufkraft), funktioniert auch dann der internationale Warenverkehr auf die Dauer nur, wenn die Produktivitätsvorteile einigermaßen gestreut sind, also nicht so einseitig wie bei Ricardo dargestellt.
Das ist nicht nur graue Theorie, sondern beweisbare historische Praxis. Das von Ricardo gewählte zentrale Beispiel für sein Theorem, Wein aus Portugal und Tuch aus England, war keineswegs ein fiktives. Es beruhte auf dem so genannten Methuen-Handelsvertrag zwischen England und Portugal, der am 27. Dezember 1703 abgeschlossen wurde. Dessen reale Resultate blamierten Ricardos Argumentation allerdings schon, bevor dieser sie überhaupt niedergeschrieben hatte; ein Beispiel für die systematische ideologische Ignoranz schon der bürgerlichen Klassik in der VWL, die sich seither immer weiter gesteigert hat bis zur völligen Verleugnung der sozialen Tatsachen. Da es im Kapitalismus nicht um die naturale Versorgung und Bedürfnisbefriedigung, sondern einzig um den abstrakten Wert in der Geldform und dessen Maximierung geht, mußte sich der angebliche wechselseitige »komparative Vorteil« sehr schnell negativ für Portugal auswirken, wie das heutige anonyme Räsonnement in einem publizistischen Flaggschiff des Wirtschaftsliberalismus mit aller Gemütsruhe feststellt:
»Während Portugal seinen Markt für englische Textilien öffnete, verpflichtete sich England, die portugiesischen Weine zollmäßig um ein Drittel weniger zu belasten als die französischen Konkurrenzprodukte, an die sich die englischen Konsumenten gewöhnt hatten. Dieser englisch-portugiesische Warenaustausch ging in die Lehrbücher über den Außenhandel ein. David Ricardo ... nahm ihn als Anschauungsbeispiel für seine Theorie der komparativen Kostenvorteile ... Über die Vor- und Nachteile für England und Portugal aus dem Methuen-Handelsabkommen, benannt nach dem englischen Diplomaten John Methuen (1650-1706), gingen die Meinungen allerdings bald auseinander. Im bilateralen Handel ergab sich für Portugal im allgemeinen ein stark negativer Saldo. Es bezahlte also mit dem reichlichen Gold aus seiner Kolonie Brasilien, was zur Verbreitung der Goldwährung in England beitrug ... Adam Smith ... konstatierte in seinem Werk ›The Wealth of Nations‹, dass der Vertrag als ein Meisterwerk der englischen Handelspolitik gefeiert worden sei und ›fast all unser Gold‹ aus Portugal komme« ( Neue Zürcher Zeitung v. 24.12.2003).
Auf der kapitalistisch einzig relevanten Ebene, der von abstraktem Wert und Geldmaximierung, blutete Portugal also eher aus; ähnlich übrigens wie die ehemalige Weltmacht Spanien. Der Niedergang der Kolonial- und »Goldmächte« Spanien und Portugal gegenüber England und Holland ist oft unter dem Aspekt beschrieben worden, dass in der nordeuropäischen und angelsächsischen Welt protoindustrielle Produktion, Produktivitätssteigerung und Exportstärke (in Vermittlung mit »protestantischem« Geist) ihre Überlegenheit gegen die bloß äußere iberische Kolonisation gezeigt und den lateinamerikanischen Goldschatz abgesaugt hätten, so dass dieser letztlich nicht Spanien und Portugal, sondern Holland und England kapitalistisch progessiv entwickeln konnte. Die reale Historie ist insofern ein Schlag ins Gesicht für Ricardos bis heute immer wieder hervorgekramtes Theorem. Im Sinne des »abstrakten Reichtums« (Marx) war Portugal der eindeutige Verlierer beim angeblich wechselseitigen »komparativen Vorteil«; und da die Bedürfnisbefriedigung auf der naturalen Ebene in kapitalistischer Form eben von der Bewegung des »abstrakten Reichtums« gesteuert wird, waren die sozialen »Nebenwirkungen« für die Portugiesen entsprechend verheerend:
»Unter wirtschaftlichen Aspekten fühlte sich aber ... Portugal überlistet. Dies nicht nur, weil englische Textileinfuhren den heimischen Erzeugern zu schaffen machten. Vielmehr kam es auch zu einer Explosion des Weinbaus. Viele Landbesitzer kultivierten nicht mehr Getreide, sondern wegen der attraktiveren Preise Trauben. Es kam zu Überproduktion, Preisverfall und Hungersnot« ( Neue Zürcher Zeitung , a.a.O.).
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