Güray nimmt einen Schluck Rakı, nervenkräftigende Löwenmilch, wie man in der Türkei den Anisschnaps nennt. »Ich habe die Ohren auf den See und die Augen auf die Berge gerichtet. Was willst du in der Stadt? Hier hast du Gurken, Tomaten, Fisch, ein Haus und Natur – alles umsonst. Aber die Menschen haben immer Angst, sie haben Angst vor allem. Hier haben sie Angst vor dem See, vor dem Berg, davor, etwas in der Stadt zu verpassen. Wie kann man vor der Natur Angst haben?«
Vor vielen Jahren habe er, der Familie seiner ersten Frau zuliebe, versucht, in die Moschee zu gehen. Nach dem vierten Mal bat ihn der Imam, nicht mehr wiederzukommen. Güray hatte über die Betrituale und das Drumherum ständig lachen müssen – und sei’s über die Löcher in den Socken der todernsten Männer. »Kein’ Chance! Ich immer lachen!« wiederholt er. Er lacht und beschreibt, wie die Kirche den Leuten das Geld raubt.
Herr Erdoğan, der mit Inbrunst Tausende von liberalen Journalisten verfolgen und nach Gusto in den Karzer werfen läßt, wird das ungern vernehmen. Die Islamisierung schreitet unter der Regentschaft seiner Partei, der AKP, zügig voran. Saudi-arabische Imame dürfen jetzt in Schulen unterrichten, Bier, Wein und Rakı werden immer teurer, an Universitäten gilt seit August totales Alkoholverbot.
Güray ist ungehalten. »Alles wollen sie uns verbieten: das Rauchen, das Trinken, an keinen Gott zu glauben. Verbote, Verbote, Verbote.« Mit Begeisterung lesen wir dieser Tage auch, daß der türkische Pianist Fazil Say wegen der »öffentlichen Erniedrigung religiöser Werte« vor Gericht gezerrt wird, weil er sich u. a. über die Bigotterie der Gläubigen lustig gemacht hat, die Wasser predigen und Rakı trinken.
In Milas, etwa vierzig Kilometer südlich von Kapıkırı, hält die laizistisch-sozialdemokratische CHP am Marktplatz eine Versammlung ab. Die Provinz Muğla ist eine der letzten kemalistisch dominierten Regionen. Das würdigen wir mit vier Tuborg und danach mit drei weiteren – in der Altstadtkneipe Can Lokantasi , in der wir uns mit den großartig ausgelassenen Stammgästen mangels reziproker Sprachkenntnisse anderthalb Stunden lang ausschließlich vermöge der Wortfolge »Jupp Derwall« verständigen und verbrüdern.
Die Laune verhagelt es uns eine Woche später. Im Flughafen Izmir Adnan Menderes kosten 0,33 Liter Bier sechs Euro fünfzig, Rauchen ist unter Androhung drakonischer Geldstrafen überall strengstens verboten. Atatürk hätte den Laden vom Militär besetzen lassen.
Wir beugen uns dem Tugendwahn allerdings nicht. An Gate 233 fahren wir mit der Rolltreppe nach unten. In einer Ecke unterhalb der Rolltreppe entdecken wir eine Werbewand der Flughafenbetreibergesellschaft. Die soll uns als Paravent vor den Unbilden dieser merkwürdigen Welt schützen, als klandestine Rauchermauer.
Als meine Begleiterin und ich die Wand vorsichtig anheben und wegziehen, um hinter sie schlüpfen zu können, wird ein etwa dreißig Zentimeter breites und einen Meter hohes Loch in einer Rigipswand sichtbar. Es scheint erst kürzlich ausgesägt worden zu sein, warum auch immer. Späne liegen auf dem Marmor- und dem schwarzen Teppichboden im speisekammergroßen, dunklen Verschlag herum, in den wir hineinkriechen.
Wir machen es uns bequem und rauchen, zwei hintereinander, in aller Ruhe. Zeuge ist ein Wischmop – und ein kleines rotes, schlangenartig verdrehtes Stück Kabel, von nun an unser treuer Begleiter und Talisman auf unseren Reisen um einen grotesken Globus.
Im Flugzeug haben wir dann den Flughafen Izmir Adnan Menderes bei Weißwein und Bier in Atatürk-Airport umbenannt. Wir werden es Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in Bälde schriftlich mitteilen.
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