Trieb mich rum im Frankfurter Bahnhofsviertel, versuchte es mit Tränen. Einer, der auszog, um das Weinen zu lernen. Ein Märchen. Nach zehn Bier und sechs Korn ging’s manchmal. Dann war ich stolz. Ich stank nach Bier und Trauer. So hörte die Stadt auf mich zu lieben und machte mich zum einsamsten Menschen des Planeten. Mir waren die Mitleidsumarmungen der Frauen unangenehm. Mir erschien ausgesprochenes Mitgefühl als Lüge, als Obszönität. Der Einzige, den ich ertragen konnte, war mein Bruder. Der wohnte in Essen. Immer schon. Ein Fels in der Brandung. Ich fuhr zu ihm. Wir tranken Bier und erzählten uns Geschichten von früher. Manchmal weinte ich. Dann ging er in die Küche, holte den Ouzo aus dem Eisfach und schenkte ein.
Hier werde ich vielleicht eine neue Arbeit finden, als Verlagsassistent. Kann nichts anderes. Ich lache kalt auf.
„Montag: Vorstellungsgespräch! Reiß dich zusammen!“, rufe ich mir zu. Vor einer Eckkneipe stehen einige Taxen. Ich steige in eine und nenne dem Fahrer die Adresse meines Bruders.
Wir sitzen zusammen und erzählen uns Geschichten von früher und Neues von heute. Zwischendurch geht er nach Nebenan, um das Gästebett zu beziehen. Das Bier ist kühl, der Ouzo wärmt. Den Koffer kann ich ja morgen noch holen.
An Brüdern wie Felsen in der Brandung zerschellt man nicht. Sie retten einen vor dem Ertrinken. Bestenfalls.
Es war Montagmorgen viertel vor acht, als Heinz Scholz im Lehrerzimmer auf den Vertretungsplan sah. Er las:
Scho - 1. + 2. Std - Ku - SEFÖG - Raum - K004
Für nicht Eingeweihte hieß die Übersetzung: Herr Scholz sollte in der Seiteneinsteiger-Fördergruppe, also in der Flüchtlingsklasse, zwei Stunden Kunst im Kellerraum 4 vertreten. Und zwar jetzt, gleich, sofort.
Heinz war zweiundsechzig, wollte keine Karriere mehr machen, nicht mehr die Schullandschaft oder gar die Welt verändern. Er wartete auf seine Pension und auf die Reisen mit seiner Frau und dem alten Wohnwagen. Ja, so war er. Früher hatte er sich engagiert, jahrelang, Jahrzehnte, gefühlte Jahrhunderte. Nichts war passiert, alles war erstickt im Sumpf der Bürokratie.
Meine Güte, auch das noch, was mach ich denn da mit den Flüchtlingen? Da spricht doch kaum einer Deutsch. Haben die denn Material? Ich war da noch nie. Die sollen ziemlich schwierig sein, dachte er.
Heinz ging in den Materialraum Kunst, klemmte sich ein paar verwaiste Zeichenblöcke und eine Kiste mit Wachsmalstiften unter den Arm und stieg hinab in den Keller. Die Tür zum Raum 004 war geschlossen und kein Ton zu hören.
Vielleicht hat ihnen ja die zuständige Kollegin gestern schon gesagt, dass die ersten beiden Stunden ausfallen, hoffte Heinz.
Er drückte die Klinke herunter, die Tür öffnete sich. Gleich sprang ihm ein Mädchen zu Hilfe und nahm ihm die Blöcke und die Kiste ab. Er betrat den Raum und schaute in die Gesichter von sechszehn Kindern und Jugendlichen, irgendwo zwischen 10 und 18 Jahren. Sie sahen ihn an, ängstlich, verunsichert, belustigt, forsch, gelangweilt, neugierig, mit einem Lächeln um den Mund oder mit Sorgenfalten auf der Stirn, mit ernstem Gesicht oder unbedarfter Heiterkeit. Aber niemand sprach, alle standen hinter ihren Stühlen und warteten.
„Guten Morgen zusammen!“, sagte Heinz. Sie antworten im Chor: „Guten Morgen Herr …“ Verlegene Blicke.
„Ach so, ja, ich bin Herr Scholz. Wir haben jetzt zwei Stunden Kunst zusammen“, sagte Heinz und lächelte sie an. Sie setzten sich und grinsten zurück.
Das hilfsbereite Mädchen von vorhin, das Lava hieß, erklärte ihm etwas altklug in gebrochenem Deutsch, dass einige von ihnen schon seit über einem Jahr hier seien, andere erst seit ein paar Monaten und Ayan erst seit letzter Woche. Und sie zeigte auf einen schwarzen Jungen von etwa 15 oder 16 Jahren, der schüchtern auf seine Hände blickte, als er seinen Namen hörte. Die meisten verständen schon viel Deutsch, wenn nicht, dann aber Englisch. Nur Vasili nicht, aber Boris übersetze ihm alles. Das funktioniere alles sehr gut, erklärte Lava. „Frau Drilling immer sagt: Alles gut, alles gut!“, endete sie mit einem Lachen.
Heinz verteilte Blätter und Stifte, seine Angst verflog. Es sind nur Kinder. Kinder sind eben Kinder, überall, Gott sei Dank. Er erklärte auf Deutsch und auf Englisch, dass sie ein Bild malen sollten zum Thema Frühling. Natürlich war das seltsam, es war Mitte Januar, tiefster Winter, draußen lag Schneematsch. Aber er konnte sie doch nicht auffordern, den kargsten, traurigsten und schäbigsten Monat des Jahres zu malen. Das ging doch nicht.
Er fragte, was denn alles zum Frühling gehöre und sie antworteten: „ flowers, grass, trees, Sonne, Haus, Wiese, Regenbogen, Vögel, Kinder, Eltern, Mam and Dad, brother, Schwester, alles grün, schöner Regen, Datteln, Feigen, sweet, all is sweet …“
Und sie malten drauflos, die Kleineren eifrig, die Älteren gelassen. Dabei erzählten sie, woher sie kamen, fragten Heinz, ob er verheiratet sei, ob er Kinder habe, waren erstaunt, dass er nur ein Kind hatte, schauten daraufhin mitleidig, fragten, wie man einen Hasen malt, einen Esel oder ein Kamel. Alle waren beschäftigt und gut bei der Sache, nur einer nicht: Ayan.
Heinz bemerkte es und setzte sich zu ihm.
„Du bist Ayan, ja?“, fragte Heinz ihn auf Englisch.
Ayan nickte.
„Woher kommst du, was ist dein Land?“
„Er kommt aus Somalia, Frau Drilling hat gesagt“, krähte Lava dazwischen.
„Sei mal still, Lava, Ayan soll selbst erzählen“, erwiderte Heinz.
„Englisch er versteht, aber nix sagen, nie!“
„Ayan, wie alt bist du?“, versuchte es Heinz weiter.
Der Junge sah Heinz nicht an und rutschte auf seinem Stuhl etwas nach hinten. Heinz lächelte ihn an, nahm einen Malstift und hielt ihm den vors Gesicht. Ayan drehte zitternd den Kopf zur Seite.
„Hier, nimm den Stift und male, was du willst. Oder auch nicht. Du musst nicht“, sagte Heinz auf Englisch und strich ihm beim Aufstehen mit der Hand über die Schulter.
„No!“, schrie Ayan, sprang auf, „don’t touch me! No!“, drückte sich mit aufgerissenen Augen an die Wand. Der Stuhl war mit einem lauten Knall umgestürzt. Dann war es still, ganz still.
Heinz war zwei Schritte zurückgewichen. Die Handflächen nach unten gerichtet, signalisierte er Ruhe, Rückzug, sagte dann: „Okay, okay, ich lass’ dich in Ruhe, ich fasse dich nicht an.“
Man hörte das Ticken der Heizung, leises Scharren von Ayans Schuhen, das zurückgenommene Atmen der Kinder. Wie in Zeitlupe begann Ayan sich zu bewegen. Er ging wieder zum Tisch, stellte den Stuhl auf, setzte sich hin, hielt immer den Blick auf Heinz gerichtet, zog aber das leere Blatt zu sich, nahm einen Stift und begann zu malen.
Alle atmeten auf. Es kam wieder Leben in die Gruppe. Sie malten weiter, sprachen und lachten miteinander. Aber anders als vorher, verhaltener, geduckter. Heinz ging von Tisch zu Tisch, sah sich die Zeichnungen an, gab Ratschläge, half bei Motiven und Details, redete mit ihnen, fragte sie nach ihren Interessen, ihrem Alltag. Und zwischendurch schaute er immer mal wieder hinüber zu Ayan, wie er dasaß und malte. Manchmal konzentriert und akribisch, dann wieder wild kritzelnd und krakelnd. Der schlaksige Junge mit der dunklen Haut ließ Heinz nicht aus den Augen, innerlich auf dem Sprung, bereit zur Flucht.
So ging es die ganze Doppelstunde lang, fast neunzig Minuten. Als er am Ende der Stunde seine Kreidekästen wieder einsammelte und die Schüler in die Pause schickte, kam Heinz an Ayans Tisch. Der faltete schnell sein Blatt in der Mitte, schob es Heinz über den Tisch mit den Worten: „Here, that’s my spring. (Das ist mein Frühling)!“, und rannte hinaus.
Heinz faltete das Blatt auseinander und schaute auf das Bild: Drei große, schwarze, stehende Figuren, eckig gezeichnet, mit spitzen Gegenständen, vielleicht Knüppeln, Speeren oder Gewehren, waren zu erkennen. Vor diesen brachialen Gestalten lag eine Vielzahl kleiner, brauner Figuren. Darüber waren in wildem Krickelkrakel, rote, zackige Linien gemalt.
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