Den souveränen Künstler schert das nicht. Ihm ist wichtiger, dass er überhaupt in irgendeiner Weise Gehör findet, Fläche bekommt, um sich und sein Werk zu projizieren. Er drückt seine Befindlichkeit, die er im Alltag nicht vermitteln kann, durch Musik, Bild, geschriebenes Wort oder Darstellung aus. Er sehnt sich nach Ruhm und Anerkennung und das zugestandenermaßen umso mehr, je lauter sein Magen knurrt. Natürlich ist er bereit, sein Tun in den Dienst einer anderen Sache zu stellen, solange zumindest, wie sie diesem Tun nicht widerspricht – zumindest nicht zu offensichtlich.
An Pop fasziniert mich, dass diese Kultur am souveränsten mit der Beziehung zum Kapital umgeht. Klar, die Geschichte der Kunst ist immer auch eine Geschichte von finanziellen Abhängigkeiten. Aber Pop heißt, darüber nicht zu jammern. Die Kunst der Popkultur besteht darin, das Kapital nicht verschämt zu verneinen, keine unbefleckte Empfängnis des Werks vorzugaukeln, sondern sich des Kapitals zu bedienen, mit ihm zu spielen, es sogar ab und an zu verhöhnen. Da Geld keine Seele hat, ist ihm das übrigens völlig egal. Ich brauchte selbst einige Zeit, das zu begreifen.
»You fucked up your life, why don’t you smile?«, sangen Element of Crime, die erste Band, die ich als Mitarbeiter der großen Plattenfirma Polydor unter Vertrag genommen hatte – 1986 im Westwerk in Hamburg. Ich drückte meine damalige Freundin und heutige Mutter unserer Kinder fest an mich, denn statt eines Lächelns waren Tränen auf meinem Gesicht. Ich fühlte mich ertappt: als derjenige, der sein Leben damit verschwendete, einem Konzern zu dienen, der keinen Inhalt hat. Das wäre vielleicht das Einzige gewesen, was ich – auf Wallraffs Spuren – noch hätte entlarven können. Aber nun, da ich diese netten Kreuzberger Jungs genötigt hatte, bei meiner Firma zu unterschreiben, war ich natürlich Teil des Systems. Doch das System ließ sich benutzen und beschwerte sich nicht einmal. Mit seinem Geld wurde die Legende John Cale, der John Lennon von Velvet Underground, überzeugt, die Band zu produzieren. Wir sparten ansonsten jeden Pfennig. Die Band wohnte zu viert in einem Zimmer in Swiss Cottage, einem Stadtteil Londons, der nur irreführenderweise nach Alpenromantik klingt. Wollte man heizen, musste man alle zehn Minuten Münzen nachwerfen, doch dafür hatten wir Fotos von Derek Ridgers, einem der gefragtesten Fotografen des damals angesagtesten Musikmagazins NME (New Musical Express).
Pop braucht Kapital, aber noch mehr braucht es Massenmedien, die natürlich wiederum nur aufgrund von Kapitaleinsatz existieren und gemäß Kapitallogik funktionieren. Die Medien bekamen wir für Element of Crime, zumindest was die Presse anging, – weil John Cale und Derek Ridgers nach großer, weiter Welt rochen und die Platte »Try To Be Mensch« dennoch so schön nach nebenan klang. Die Inszenierung für die Medien ist im Pop fester Bestandteil des Werks. Massenmedien sind sein Transportmittel direkt in den Alltag des Betrachters, Lesers, Hörers hinein. Am besten geschieht das ohne Vorwarnung. Als Song im Taxi, Text in der Tageszeitung oder Bild im TV, das dich kalt erwischt und bewegt. Nicht selten wird das Medium dabei selbst zum Pop. Pop funktioniert dann perfekt, wenn durch das Alltägliche der Alltag beeinflusst wird. Pop misst seinen Erfolg daran, in welcher Tiefe, welcher Breite dies gelingt. Das hat maßgeblich mit der Häufigkeit und Intensität zu tun, mit der das Werk den Konsumenten erreicht.
Das offensive und ehrliche Verhältnis zu Massenmedien und Kapital macht Pop aber auch so furchtbar verletzlich, wenn auf der anderen Seite die Verantwortung des Künstlers und der ihn umgebenden Managementstrukturen nicht mehr wahrgenommen wird. Management bedeutet im besten Sinne Moderation, bedeutet, im Interesse beider Seiten anzubremsen, wenn Inhalt durch Kapital und/oder Medium bedroht wird. Denn Inhaltsleere zerstört auf Dauer nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch das Geschäft. Wie soll man einen Konsumenten dazu bringen, für etwas Geld auszugeben, wenn es doch scheinbar um nichts mehr geht? Wenn die Wertschöpfung allein schon der Wert ist, darf sich niemand wundern, wenn die Charts nur noch eine Karaoke-Bar sind. Gute Karaoke-Sänger sind sicher nette Nachbarn oder Arbeitskollegen, aber eben keine Popstars. Innovation gehört nicht zum Programm von Casting-Shows. Doch eine Kultur, die sich nicht erneuert, nivelliert sich irgendwann. Pop führt somit gerade eindrucksvoll vor, wie man sich selbst abschaffen kann, wenn auf Dauer die Inhalte fehlen.
Nach genau diesen Inhalten jedoch sucht der Konsument, um sich selbst zu definieren. Er steht nicht mehr auf der vierten Stufe der berühmten »Bedürfnispyramide«, die Verhaltensforscher Abraham Maslow vor mehr als 60 Jahren publizierte. Auf das Bedürfnis nach Nahrung, nach Fortpflanzung und nach Sicherheit folgt dort das nach Gruppenzugehörigkeit. Auf Stufe fünf winkt in sehr entwickelten Gesellschaften die Individualisierung. Man will nicht mehr nur Teil der wärmenden Masse sein, man wendet sich eher vom klassischen Mainstream ab und versucht, Eigenständigkeit zu demonstrieren. Das gelingt in den meisten Fällen nur bedingt. Es führt aber dazu, dass nicht mehr der »ideale« Schwiegersohn oder die tumbe, blonde Sexbombe den neuen Mainstream ausmachen, sondern durchaus eigenwillige Typen, die die Spitzen der jeweiligen Szenen darstellen. Der Konsument dokumentiert seine vermeintliche Eigenständigkeit, indem er sich musikalische Bouquets zusammenstellt: Norah Jones und U2, Shania Twain und Eminem – und natürlich Robbie Williams. Das bedeutet: Jazz und Alternative Rock, Country, Hip-Hop und natürlich Pop; Künstler aus unterschiedlichen Genres, die sich als Stilrichtungen eigentlich widersprechen. Zusammen bilden sie nun eine Plattensammlung, die vor Jahren noch schizoid erschienen wäre, die ich so aber schon oft vorgefunden habe. Alle genannten Interpreten haben ein eigenständiges Profil, kommen authentisch aus ihren jeweiligen Szenen und sie stehen, jeweils auf ihre Art, für Inhalte. Nebenbei bemerkt, sind sie die weltweit erfolgreichsten Pop-Künstler ...
Die Musikwirtschaft ignorierte lange, dass sich der Konsument in seinem Drang nach Individualität längst selbst einen neuen Mainstream zusammengestellt hat. Gemeint ist damit jedoch nicht mehr die einheitliche Soße, die man klassisch unter Mainstream verstand. Die neue Mischung besteht vielmehr aus den Spitzen der jeweiligen Szenen. Statt aus diesen Szenen die neuen Ikonen aufzubauen, wurde das eigene Bild von Mainstream dagegengesetzt: TV makes the superstar und Bravo-Compilations. Ignoriert die Musikwirtschaft aber dieses Bedürfnis und bringt obendrein der nächste Digitalisierungsschub einen Formatwechsel (wie von der CD zum Internet) mit sich, der auf extreme Weise die Individualität des Konsumenten fördert, dann habe ich ein richtig handfestes Problem. Eines, das die Musikindustrie zu ersticken droht und das in ähnlicher Weise zumindest auf Film und Fernsehen zurollt. Die Musikwirtschaft hat hier die Rolle der Avantgarde, weil ein Popsong die Kunst der kleinen Datenmenge repräsentiert. Doch je mehr sich Datenkompression und Übertragungsgeschwindigkeiten entwickeln, desto eher holt dieses Problem auch andere Medien ein. Diese können aus der Geschichte der Musikindustrie lernen und sollten nicht denselben Fehler begehen und die Warnsignale überhören.
Auf der ersten internationalen Managementtagung der PolyGram, an der ich als frisch gebackener Geschäftsführer von Motor Music 1994 teilnehmen durfte, gönnte man sich Nicholas Negroponte als Gastredner, den Gründer und Leiter des legendären Media Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Der Visionär Negroponte, Mitgründer des Magazins Wired, erklärte, wie Datenkompression und Peer-to-Peer-Netzwerke funktionieren würden. Er prognostizierte, dass in zehn Jahren schon die Hälfte aller Musiktitel über das Netz kommen würde. Der Geschäftsführer von A&M Records schlief während des Vortrags ein, andere begannen zu plaudern und in der Pause stand Negroponte ganz alleine da. Als er gegangen war, entschuldigte sich der Chairman bei seinen Mitarbeitern. Das sei natürlich alles Quatsch, der Mensch sei haptisch veranlagt, ein Download würde niemals als Besitz begriffen werden. Zur selben Zeit kauften sich bereits Tausende von Kids Computer-Games für über 100 Mark, schmissen deren Verpackungen weg und nannten einen Game-Icon auf dem Bildschirm ihr Eigen.
Читать дальше