Springt die Musikindustrie über diese letzte Hürde, die sie sich da selbst aufgebaut hat, bietet sie für 5 bis 10 Euro pro Monat (soviel zahlt ein Filesharer auch für ein gutes Administrationssystem) den dauerhaften Download, dann ist sie schnell dort, wo man sie vor vier Jahren bereits gewähnt hat. Sie ist dann nicht mehr dieselbe, aber eine in ihrer Wiedergeburt rundum erneuerte Branche.
Wenn es hilft, die unterschiedlichen Industrien zu gewagten aber konsequenten Schritten wie diesen zu ermutigen, tingele ich gerne noch eine Weile als Onkel Konstantin über die Bühnen der Konzernzentralen und Unternehmensverbände und erfreue mich am digitalen Leben nach dem analogen Tod.
Einleitung
Dies ist die Geschichte eines Scheiterns. Meines Scheiterns. Schließlich trat ich vor 18 Jahren nicht an, um in der Musikindustrie Karriere zu machen. Im Gegenteil, ich wollte sie entlarven. Mein Job als sogenannter Junior A&R und Produktmanager des Musikkonzerns PolyGram (also als ein Scout, der Künstler findet, deren Produktionen organisiert, diese überwacht und die Veröffentlichung ihrer Platten dann mit Marketingmaßnahmen begleitet) war Tarnung. Als Undercover-Journalist wollte ich recherchieren und das Erlebte und Gefundene zum ersten deutschen Enthüllungsbuch über die Musikindustrie verarbeiten.
Dieses Vorhaben ist mir gründlich misslungen. Und auch das vorliegende Buch ist kein spätes Produkt meiner damaligen Ambitionen als Westentaschen-Wallraff. Denn um das Enthüllen geht es mir nicht wirklich. Ich könnte nur aufzeigen, dass die Industrie nicht – wie von mir damals angenommen – böse, sondern bestenfalls blöde ist. Aber wen interessiert das? Und sollte ein Buch auf Schadenfreude basieren? Interessanter ist diese Industrie vielmehr als Seismograph.
Das Beben der Digitalisierung konnte man in der Musikwirtschaft, wenn man nur wollte, schon vor weit mehr als einem Jahrzehnt wahrnehmen. Die Krise der Inhalte, die eintreten kann, wenn Kapital ungebremst und ungemanaged auf Kultur trifft, beutelt sie schon länger. Der Kampf um Identität, Abgrenzung und natürlich Macht zwischen Publikum, Künstlern und Managern, gehört bei ihr seit jeher zum Programm. Die Zukunft der Medienindustrie hat also einiges mit der Vergangenheit der Musikwirtschaft zu tun.
Bei meinem Vorstellungsgespräch im Juni 1986 waren meine Pupillen geweitet. Ich gab den beiden Polydor-Managern, die mir gegenübersaßen, gerade mal die Zeit, mir drei Fragen zu stellen. Dann redete ich über eine Stunde lang, nahezu ununterbrochen. Kurz vor dem Gespräch hatte mich eine Heuschnupfenattacke heimgesucht und Avil, das brandneue Mittel, welches mir mein Arzt verschrieben hatte, zeigte eigenwillige Nebenwirkungen. Mittlerweile ist es vom Markt genommen worden, aber damals führte es dazu, dass meine Freundin Petra mich zusammengesackt über dem Küchentisch fand. So konnte sie mich nicht gehen lassen. Ein Piccolo sollte den Kreislauf pushen. Sekt und Avil – das entpuppte sich jedoch als perfektes Substitut für Speed. Später haben wir das ab und an gezielt für Partys eingesetzt.
Mit wippenden Beinen saß ich da und starrte auf den Repertoire-Katalog der Polydor. Auf der Liste standen die Namen aller deutschen Künstler, welche die zur PolyGram-Gruppe gehörende Schallplattenfirma unter Vertrag hatte. Ein Kabinett des Grauens, meinte ich damals als 21-Jähriger, und sagte das auch meinen erstaunten Gesprächspartnern: Den einen Künstler hätte man schon vor Jahren entlassen müssen, den anderen von Anfang an mit Berufsverbot belegen sollen und den Dritten könne man vielleicht zum Heilpraktiker umschulen. Zu alt waren sie meiner Analyse nach alle, und ich machte deutlich, dass der Job der Polydor in diesem Bereich über Jahre hinweg lausig verrichtet worden war.
In fast jeder anderen Industrie hätte für den drogenverdächtigen, vorlauten Renner zu Recht der Bewerbungs-Countdown begonnen und ich hätte wenig später nach einem gepflegten Tritt in den Hintern auf der Straße gesessen. Doch der Polydor-Geschäftsführer und der Abteilungsleiter für nationales Repertoire horchten stattdessen auf. Sie wussten schon lange, dass diese Industrie in Plastik gegossene Revolution verkauft, und dieser junge Typ hatte gerade in ihrem Büro die rote Fahne gehisst. Mein Vertrag lag am nächsten Tag in der Post.
Die Geschichte der Popmusik war immer schon die Geschichte eines Aufstands. Man bekämpfte den Schrecken des Krieges mit Swing, die Bürgerlichkeit der fünfziger Jahre samt angrenzendem Rassismus mit der »Negermusik« Rock ’n’ Roll, die elterliche Tätergeneration, deren bestenfalls harmlose Schlager das Vergessen befördern sollten, mit ernsthaften Singer-Songwritern, die Hippies und ihr ewiges Sinn- und Geborgenheitsstreben mit dem groben Punk und die 68er, an der kritischen Theorie geschult, mit minimalistischem, »kalten« Techno. Musik ist das erste eigene Ausdrucksmittel junger Menschen und wird dies immer bleiben. Handwerklich kann sie leichter zu produzieren sein als fast alle anderen Kunstformen. Am Anfang reichen drei Akkorde, das wissen wir spätestens seit dem Punk. Oder zwei Plattenspieler und ein bisschen Übung. Das Ergebnis stellt sich schnell ein: auf der Bühne kann man sich bewundern, zu Hause wegen des Krachs von den Eltern anfeinden lassen.
Genau um diese beiden Dinge geht es zunächst in der Rock- und Popmusik: Sexualität und Abgrenzung. Später, mit zunehmendem Alter, kommt der Wunsch nach ewiger Jugend hinzu. Kein Computer-Game kann das Gefühl ersetzen, das zwischen Bühne und Publikum entsteht. Am Rechner oder der Game-Console spielt man allein oder bestenfalls vernetzt. Das Konzert oder die Party, auf der ein DJ seine Performance hat, ist hingegen immer ein kollektives und verdammt körperliches Erlebnis. Junge Menschen, die noch nicht genau wissen, wie sie mit dem anderen Geschlecht umgehen sollen, wie man es ansprechen und von sich überzeugen kann, haben Musik und Bewegung als gemeinsame Brücke. Wohl dem, der in einer solchen Situation auf der Bühne oder hinter den Plattenspielern steht. Wenn nicht, sollte man zumindest den Gitarristen kennen oder die Songs und die Leistungen der jeweiligen Protagonisten beurteilen können, um später nicht allein im Dunkeln vor der Pausenhalle zu stehen. Ist dieses Schema einmal erlernt und verinnerlicht, funktioniert es auch noch Jahre nach der Pubertät und schafft gleichzeitig wieder und wieder neue Generationen junger Popfans.
Der Konsument von Popmusik ist bereits längst mehrheitlich über dreißig, doch die Erneuerung der Kunstform kommt nach wie vor von den Heranwachsenden. In der Musik finden sie Ausdrucksformen, die die Eltern und Lehrer nicht auf Anhieb verstehen, Musik hilft ihnen bei der Persönlichkeitsfindung. Nur wenn ich weiß, wo ich eigen bin, weiß ich, dass ich eigenständig bin. Doch von Generation zu Generation wird diese Abgrenzung schwieriger, zuletzt gelang das auf innovative Weise nur noch durch die völlige Auflösung von Songstrukturen – im Techno. Für die Kulturform Pop ist es dennoch ein Gottesgeschenk, so eng mit der Pubertät verwoben zu sein. So wird sie zuverlässig immer wieder hinterfragt. Das macht sie zur innovativsten Kunst. Und weil sie so nötig gebraucht wird, auch zu einer der Kommerziellsten.
Pop = Kunst + Kapital x Massenmedien. Mittel zum Zweck zu sein ist ein Schicksal, das der Kunst schon lange vertraut ist und das sie noch jedes Mal mit tiefer innerer Müdigkeit überlebt hat. Man singt, komponiert, dichtet und malt für die Christianisierung, die Glorifizierung reicher und mächtiger Mäzene und schließlich, nach der industriellen Revolution, für die Markteinführung von Seifen, technischem Gerät, Kurzgebratenem und vielem mehr. Ein Künstler will mit gutem Recht nicht arm sein. Auf diese Form der Romantik kann er dankend verzichten. Gefordert wird diese nur von einem Publikum, welches als Voyeur die Authentizität des Werks durch das echte Leid des Künstlers zu steigern hofft. Am liebsten würde es ihn sowieso erst nach seinem Tode entdecken und fördern. Das Feuilleton unterstützt es dabei entschlossen – häufig eifersüchtig auf lebende Künstler.
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