Über die Jahre kamen rein generationsbedingt mehr und mehr Menschen in die Musikindustrie, die mit den Ideen von Punk und Independent-Labels groß geworden waren. Sie hatten in der Regel auch den Anspruch, eine andere Beziehung zwischen Künstler und Label zu etablieren. Häufig hieß dies aber, dass einfach nur der Konflikt vermieden und dadurch beiden Seiten kein Gefallen getan wurde. In den schlimmsten Fällen bekamen die Bands jeden Wunsch von den Lippen abgelesen, und der A&R-Manager genoss es, ihr Held zu sein, der dem System riesige Summen abgerungen hatte. Aber es war gar nicht schwer, die Summen zu bekommen. Man musste nur den entsprechenden Erfolg prognostizieren. Trat dieser nicht sofort ein, kam die Rechnung. Die Konsequenz hatte erst mal der Künstler zu tragen, sein Vertrag wurde angesichts der tiefroten Zahlen nicht verlängert. Der A&R beschwerte sich dann, dass heutzutage die Plattenfirmen den Musikern keine Zeit mehr für ihre Entwicklung geben würden.
Umgekehrt ist es richtig. Wer seine Künstler überschuldet, nimmt ihnen Zeit und Zukunft. Die Aufgabe eines A&R ist auch die Moderation. Er darf weder die Befindlichkeiten der einen noch der anderen Seite komplett zu seiner eigenen machen. Seine Verantwortung gegenüber dem Künstler bedeutet gerade, häufig auch Nein zu sagen. Nur weil die Kosten von Element of Crime so eisern kontrolliert wurden, war es möglich, mit ihnen fünf Platten aufzunehmen, bis der Durchbruch kam. Alle Veröffentlichungen davor hatten bereits mit geringen Verkaufszahlen eine schwarze Null oder nur einen winzigen Verlust generiert. Natürlich macht man sich mit einer solchen Politik nicht immer beliebt bei seinen Klienten, aber das ist auch nicht der Job. Man darf niemals die Mutter sein, die versucht, die beste Freundin ihrer Tochter zu werden. Irgendwann wird sie dich dafür hassen, und das mit Recht.
Das Paradies – beschallt von Klaus Wellershaus und mit Karol Wojtyla
»Der Bericht zur Lage der Nation« hallte es über den Äther. Aber das war nicht die Stimme des Bundestagspräsidenten, sondern meine, und sogleich würde auch nicht der Kanzler hinters Mikrofon treten, denn da saß ja schon ich. Der NDR-Redakteur Klaus Wellershaus hatte sich Festival der guten Taten besorgt, angehört und mir daraufhin meine erste Sendung gegeben. Auf der ersten Ausgabe dieser als Zeitung erscheinenden Musikkassette waren meine Interviews für das Sozialkundeprojekt zusammen mit einigen Rezensionen von Independent-Platten zu hören. Der einzige Redakteur war ich, die Tapedecks zum Kopieren der vielen MCs hatten mir meine Klassenkameraden geliehen. Vertrieben wurden sie bundesweit über einen Laden namens Rip Off. Die Auflage lag knapp unter 1.000, immer wieder hatte Rip Off angerufen und nachbestellt. Alle drei Monate gab es eine neue Ausgabe. Jedes Kassetten-Cover war mit der Hand ausgeschnitten, jede Kassette in realer Laufzeit überspielt. Wie viel leichter war es da, eine Radiosendung zu machen.
Es waren nur noch wenige Sekunden bis zur Sendung. »Ruhig bleiben«, empfahl der erfahrene Redakteur, »wir sind gleich live drauf. Da draußen warten jetzt 1,2 Millionen Menschen darauf, dass du ihnen etwas sagst, konzentrier dich auf sie.« Damals gab es im Norden ja nur drei Programme, und ein Schnitt von über einer Million Hörer war deshalb auf der Frequenz vom NDR die Regel. Gerade mal 16 Jahre alt geworden, hatte ich nie mehr Menschen gesehen als bei einem ausverkauften Heimspiel des HSV. Vor meinem geistigen Auge stapelte sich deshalb das vollbesetzte Hamburger Volksparkstadion zwanzigmal übereinander. Ich stand vor diesem merkwürdigen Gebilde aus wahnsinnig vielen Menschen auf einem kleinen Podium. Mein Hals schnürte sich zu, aber endlich krächzte ich »Guten Abend« ins Mikrofon.
Danach präsentierte ich eine Stunde lang die englischen Independent Charts, schaltete zu meinen Außenreportern Burkhard Seiler in Berlin und Christoph Schlingensief in München, um zu hören, was sich in den anderen Metropolen Neues tat. Dazwischen gab es Musik zu hören, die ich gerade wichtig und spannend fand. Von acht bis neun Uhr abends, einmal im Monat, immer am ersten Montag. Was ich spielte, war komplett mir überlassen. Wenn man mir sagen müsste, was ich auflegen sollte, meinte damals Wellershaus, bräuchte man mir keine Sendung zu geben.
»Nur was mich selbst überrascht, mute ich auch anderen zu«, lautete das Credo von Klaus Wellershaus. Auf diese Weise hat er damals eine ganze Generation von Pop- und Rockmusikkonsumenten von Flensburg bis nach Hildesheim und in der ganzen nördlichen DDR geprägt. Der ausgebildete Dirigent Wellershaus hatte mit wenigen Mitstreitern beim NDR ab 1965 ein Jugendprogramm durchgedrückt. »Es gab damals so genannte Abhörkonferenzen beim NDR«, erzählte er, »bei denen die neuen Platten daraufhin abgehört wurden, ob sie archiviert oder aussortiert werden sollten. Immer, wenn es ›schräg‹ wurde, guckten alle mich an – etwa bei den Beatles oder den Kinks. Die Platten bekamen dann den Vermerk: Nur für junge Leute!‹« 4
Konsequenterweise entstand daraus die Sendung Musik für junge Leute nach der Schule, später kam im Abendprogramm des NDR 2 noch Der Club dazu. Als ich das erste Mal am Mikrofon saß, hatte Wellershaus bereits ein anderes Rollenverständnis. Er ermöglichte es nun den Nachwuchskräften, das zu machen, woran sie glaubten; er fungierte als Gastgeber und Mentor.
Das Vertrauen wurde mit spannenden Sendungen hoch engagierter Mitarbeiter belohnt. Das Programm war unberechenbar, aber gerade das machte es so aufregend und sorgte bei mir und vielen anderen für einen Grundstock musikalischer Bildung. Mal gab es Blues und Jazz – ein freundlicher Herr verkündete mit Grabesstimme, wer diese Woche wieder das Zeitliche gesegnet hatte und spielte dann deren Werke. Man merkte schnell, dass Jazz und Blues viel mehr zu bieten hatten als eine überaus hohe Letalitätsquote. Einmal kam eine Sendung für frisch erweckte Christen: Ein Mann mit schwerem, englischem Akzent namens Baskerville spielte mir so das erste Mal die damals noch bibelfesten U2 vor. Tags drauf öffnete Werner Voss sein Rock ’n’ Roll Museum, und auch Alfred Hilsberg bekam die Chance, Zuhörer wie mich mit seiner Neuen Deutschen Welle bekannt zu machen.
Immer wieder führte das Vertrauen und die Loyalität von Klaus Wellershaus zu seinem jungen Team aber auch zu Rüffeln des Rundfunkrats. Ich dachte mir nicht viel dabei, als ich fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Papst-Attentat eine Single von Der Favorit auflegte. Unterlegt von Gitarren und einem technoiden Beat war auf diesem Projekt des Abwärts-Bassisten Axel Dill der Papst zu hören. Auf Deutsch sprach Karol Wojtyla salbungsvolle Worte – nur unterbrochen von der einen oder anderen hineingemischten Maschinengewehr-Salve. Ich dachte an freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst, der Rundfunkrat nach einigen Anrufen an die Verletzung religiöser Gefühle. Klaus Wellershaus steckte diese Rüge, die eigentlich mir galt (aber ich war ja noch minderjährig und zudem nur freier Mitarbeiter), mannhaft ein und ließ mich unbehelligt weitermachen. Ich durfte auch zukünftig unter dem Kopfschütteln von verbeamteten Cutterinnen meine Sendungen vorbereiten, in denen Jugendliche zum Geräusch aufeinander krachender Einkaufswagen Lyrik sangen oder Punks aus Eisenhüttenstadt auf Tapes, die in Seife herübergeschmuggelt wurden, das Ende der DDR herbeischrieen. Der Taxifahrer, der mich nach der Sendung nach Hause brachte, meinte einmal, ich hätte heute wieder ziemlich laute Musik gespielt ...
Einen Monat, bevor ich bei der Polydor meine Arbeit aufnahm, begann der NDR, leise zu werden. Seit dem Regierungswechsel 1982 hatte Helmut Kohl die Einführung des so genannten dualen Systems vorangetrieben. In seiner Heimat Ludwigshafen begann am 1. Januar 1984 der Testbetrieb, am 1. Juli 1986 um 11:55 Uhr startete vor den Toren Hamburgs mit Radio Schleswig-Holstein der erste Privatsender, der landesweit sendete. Der Programmdirektor von RSH, Hermann Stümpert, versprach in den ersten Sendeminuten »ein Programm, das den Machern und den Hörern Spaß macht«. Beim NDR war man darüber nicht sehr vergnügt. Im Vorfeld war schon Musik für junge Leute auf die bedeutend kleinere NDR 1 Hamburg Welle verschoben worden, der Einfluss der Redaktion Wellershaus auf Der Club schwand zusehends. Stattdessen wurden für ihn, fast jenseits der Wahrnehmbarkeit, Nischen im Programmumfeld des später gegründeten NDR 4 gesucht und gefunden. Mit dem Radiokonzert konnte Wellershaus schließlich noch eine echte Musiksendung im Abendprogramm der Servicewelle NDR 2 verankern, in der »eine Band länger als eine Single spielt«. Am 31. Januar 2002 ließ sich Klaus Wellershaus in den Vorruhestand versetzen.
Читать дальше