Im Rockpalast konnte sich sogar der gehobene Fan wiederfinden. Peter Rüchel, der engagierte Chef des WDR-Jugendfernsehens hatte eine Sendung mit Livemusik durchgesetzt, die im hauseigenen Studio vor 80 Gästen aufgezeichnet wurde. Die Idee flog nicht, Versuchskaninchen wie die Band Procul Harum waren reichlich frustriert. Zum einen kann man Rockkonzerte nicht auf 30 Minuten begrenzen, zum anderen kam im kleinen Rahmen keine rechte Stimmung auf. Rüchel gab nicht auf, sondern dachte groß. Er brauchte eine richtige Halle, er brauchte eine ganze Nacht. Besessen von der Idee, aber ohne Beleg dafür, dass es klappen könnte, überzeugte er dennoch seine Vorgesetzten, ihm pro Rockpalast-Nacht fünf bis sechs Stunden Sendezeit einzuräumen. Und er gewann auch andere für seine Idee: Von Anfang an machten sieben Nationen von Italien bis Norwegen mit.
»Learning by doing – europaweit live! Denn im technischen Sinne hatten wir damals keine Ahnung«, erinnert sich Rüchel. »Als Produzent mittendrin stehend, habe ich gedacht: ›Die lassen uns nie wieder auf den Sender!‹ Die Umbaupause von Rory Gallagher auf Little Feat dauerte 45 Minuten, den Moderatoren ging der Stoff zum Moderieren aus – es war einfach ganz furchtbar.« Rüchel hat das Unmögliche gewagt und deshalb gewonnen. Die lange Nacht des Rockpalast wurde im ersten Programm zur Institution. Man traf sich bei Freunden, drehte den Ton des Fernsehers ab und das Radio aus Vaters Anlage auf volle Lautstärke (alle ARD-Radiostationen übertrugen das Ereignis parallel) und genoss am späten Samstagabend stundenlang die Crème der Rockmusik im HiFi-Stereosound: The Who, Van Morrison, The Police bis zu Einstürzende Neubauten, live und ungekürzt aus der Grugahalle in Essen oder der Philipshalle in Düsseldorf, unterbrochen von Interviews in den Umbaupausen und eingestimmt von Albrecht Metzger: »German Television prrroudly prrresents ...«
Es gab verschiedene Plattformen, die sich unterschiedlich definierten. Es ging um Schlager oder Rock, Single-Stars oder Album-Acts, Live oder Playback, und immer standen dahinter klare Entscheider. Es gab Fernsehpersönlichkeiten, die für ihre Inhalte kämpften und sich dann auch dafür verantwortlich fühlten. Niemand verschanzte sich hinter einer Redaktionskonferenz oder einer Abhör-Jury wie später die Videokanäle. Es gab den Redakteur, den man anrufen konnte, der für weibliche Überredungskünste anfällig war oder sich gerne mal zum Essen einladen ließ. Das war niemals gerecht oder objektiv, das konnte hoch korrupt sein, war aber in jedem Fall individuell und vom Ergebnis her emotional und spannend. In den öffentlich-rechtlichen Sendern gab es für aktive Redakteure Spielräume, Quotenangst spürte man dank fehlender Konkurrenz noch nicht. Dass Musik kein leichter Sendeinhalt ist, war bekannt: Zwischen den bundesdeutschen Wasserwerken und dem ZDF bestand die Absprache, die Wasserwerke vorzuwarnen, bevor in der Sendung Wetten, dass ..? die musikalischen Pausen kämen. Nur so hätten sie die Chance, für die Pinkelpause die Kapazitäten rechtzeitig hochzufahren ... Dass dies dem Harndrang von mindestens zwölf Millionen Menschen geschuldet war, wusste man schon damals.
Messungen von Reichweiten und Zuschauerzahlen wurden schon länger vorgenommen, doch wirklich wichtig waren die Analysen erst ab 1988, als sich die öffentlich-rechtlichen Sender mit den großen Privaten zur Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung zusammentaten und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) mit der sekundengenauen Erschließung des Programms beauftragten.
Schritt für Schritt begannen die privaten Anbieter, ihre Logik der Quantität, der Reichweite, der Zielgruppenpräsenz auf die gesamte Fernsehlandschaft zu übertragen. Auf welche Weise die Zuschauer mit dem umgehen, was sie sehen, ob und wie Fernsehen sie bewegt hat, wird immer weniger wichtig – das Einzige, was in den Sendern zählt, wenn am Morgen nach der Ausstrahlung die Quoten herumgereicht werden, ist die schlichte Zahl. Und bei den Analysten in den Sendern ist Musik zunehmend verpönt, denn sie führt zu Dellen in der Quotenkurve, zu den verhassten »Umschaltern«. Der Grund ist einfach: Alles, was emotional ist, führt auch zu Ablehnung. Je emotionaler, umso heftiger. Je heftiger, umso schneller wird umgeschaltet. Da sich die Qualität von Musik und ihrer Darbietung aber nun mal danach bemisst, so emotional wie möglich zu sein, widerspricht das zutiefst einem Fernsehideal, das auf stabilen Quoten, auf purer Quantität beruht.
Parallel zum Start des Privatfernsehens und den diversen neuen Kanälen kam ein weiteres Phänomen hinzu: Die Zahl der Zweitgeräte wuchs. Ende der achtziger Jahre besaß bereits jeder dritte Haushalt eines. Meist stand es im Kinderzimmer. Resultat: Der Familienverbund vor dem Fernseher wurde gesprengt. Immer seltener kam es zu TV-Ereignissen, die generationsübergreifend erlebt wurden – samt Geschmackskollisionen und Identitätsreibung. Popmusik wurde zur Privatangelegenheit. Bald regierten die Musiksender MTV und VIVA im Kinderzimmer. Und die Eltern waren froh, in Ruhe den Tatort sehen zu können. Die dringend notwendige Erneuerung des Mainstreams, der Moment, da die Jüngeren den Älteren erklären, worum es der neuen Band geht, die gerade in der Abendshow spielt, blieb dadurch aus.
Das Paradies – Beschrieben von Frank Bielmeier und Andreas Banaski
Gegen Ende der siebziger Jahre schoss an fast jeder Ecke einer Studentenstadt oder eines Univiertels ein Copyshop aus dem Boden. Die Firma Xerox hatte den Fotokopierer zwar schon 1949 erfunden, aber erst jetzt war das Gerät so günstig geworden, dass man eine Kopie für 10 Pfennige anbieten konnte. Keine Schriftsetzer, keine Filme, keine Druckkosten, eine ungeahnte Freiheit für jeden, der etwas mitteilen wollte und es sich zuvor nicht leisten konnte. Es wurde wie im Rausch kopiert, und das nicht nur vom AStA, den Atomkraftgegnern und studentischen Dritte-Welt-Gruppen, auch die Punks standen hinter den modernen Maschinen. In so genannten »Fanzines« (kurz für Fan-Magazines) schrieben sie über ihre eigene Bewegung, emanzipierten sich von der bürgerlichen Presse, die sie nicht verstand und von der sie nicht verstanden werden wollten.
Die ersten Fanzines tauchten 1976 in London auf, hießen Sniffin’ Glue, Ripped and Torn oder London Outrage. Die Bilder klebten krumm und schief, die Texte waren mit mechanischen Schreibmaschinen oder gar mit der Hand geschrieben, Korrekturen blieben einfach im Text stehen, Grammatik und Orthografie interessierten nicht und die Überschriften klebte man aus einzelnen ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammen. Sie sahen aus wie Erpresserbriefe. Der Wille zum eigenen Medium schaffte einen eigenen Stil, der sich radikal von allen Hochglanzmagazinen abhob. Man war schneller, günstiger, direkter und dreckiger als sie. Die Auflagen waren meist gering, überschritten kaum 100 Exemplare und wurden im Bekanntenkreis oder über den örtlichen Schallplattenladen vertrieben. Meist kamen sie über ihre Region nicht hinaus. Da man Fanzines weiterreichte, ein Exemplar viele Leser hatte, schafften sie ein dichtes lokales Informationsnetz. Die Punks hatten ein steinzeitliches Internet aus Papier erfunden.
Jeder war plötzlich Journalist, und alle schrieben es so auf, wie sie es erlebten. Sie hatten es nicht anders gelernt, und es entsprach genau dem eigenen Anspruch an Wahrhaftigkeit. Thema waren die eigenen Bands oder die von nebenan. Das System sah in Deutschland nicht anders aus als anderswo. Sein Epizentrum befand sich 1977 noch rund um Düsseldorf, wo auch unweit, in Grevenbroich, The Ostrich von Frank Bielmeier erschien. Bezeichnenderweise lag in Neuss, auf halber Strecke zwischen beiden Städten, die Zentrale des Kopiererherstellers Xerox. In der ersten Ausgabe des selbst kopierten Hefts heißt es vom Herausgeber: »Suche Typen, die Lust haben, eine Punk-Band zu machen! Brauche Bassist und Schlagzeuger.« In der zweiten Ausgabe fragt er schon: »Wer interessiert sich für Kassetten von Charley’s Girls???«
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