»Ja, das kann ich mir leider nur zu gut vorstellen.«
Ralf streckte sich.
»Ein wirklich schöner Ort, nicht wahr?«
»Schön, obwohl hier ein Mord geschehen ist – oder gerade deswegen?«
Naomi wunderte sich selbst über ihre Direktheit.
Ralf lachte leise.
»Auf diese Frage weiß ich beim besten Willen keine Antwort. Und wenn ich sie wüsste, dann würde ich sie möglicherweise nicht äußern.«
Naomi ruderte eilends zurück.
»Okay, ich gebe zu, die Frage ist unsinnig. Letzten Endes wird die Schönheit nicht davon beeinflusst, was hier geschehen ist. Nicht objektiv.
Aber ich habe schon einige Zeit einen anderen Gedanken im Hinterkopf: Hat der Mörder diesen Ort wegen seiner Schönheit ausgesucht? Kennst du die Plätze, an denen die anderen Morde begangen wurden? Sind sie auch so ausgewählt … romantisch ?«
Ralf stand auf.
»Darüber würde ich mich gerne ausführlicher mit dir unterhalten, Naomi. Aber jetzt wäre mir wohler, wenn ich dich zunächst einmal zu deinem Auto schaffen könnte. Warte, ich helfe dir, deine Schuhe wieder anzuziehen.«
Er nahm Naomis verletztes Bein wieder auf und rieb den inzwischen getrockneten Sand von ihrem Fuß. Naomi empfand die Berührung als sehr intim, und sie war sich nicht ganz darüber im Klaren, ob sie es gut finden sollte, dass Ralf sie so anfasste. Der hatte ihr inzwischen den Strumpf angezogen und schob ihr nun vorsichtig den Schuh über den Fuß. Dann schloss er ihn behutsam und zog die Schnürsenkel straff.
»Den anderen Schuh kann ich selbst anziehen«, sagte Naomi, doch Ralf lächelte nur und nahm ihren anderen Fuß, säuberte auch ihn und zog ihr auch hier Strumpf und Schuh an. Seine Finger waren sanft, warm und zielstrebig.
»Komm jetzt, versuch mal zu laufen.«
Naomi erhob sich und trat vorsichtig auf den Fuß mit dem lädierten Knöchel.
»Es geht schon«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Ralf nahm sie am Unterarm, und sie gingen langsam los.
Die Strecke war viel länger, als Naomi in Erinnerung hatte, und es tat auch mehr weh, als sie Ralf gegenüber zugeben wollte. Sie merkte, dass ihr der Schweiß auf der Stirn stand, und mit jedem Schritt stützte sie sich mehr auf Ralfs Arm. Schließlich blieb sie stehen.
Ralf blieb ebenfalls stehen, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich glaube, ich kann nicht mehr weiter«, sagte Naomi unglücklich. Die ganze Situation war ihr unendlich peinlich.
»Es wundert mich, ehrlich gesagt, dass du überhaupt so weit gekommen bist«, sagte Ralf trocken. »Komm, ich trage dich.«
Naomi protestierte, doch Ralf packte sie am Arm und am Oberschenkel und warf sie sich ohne Federlesens wie ein Kalb über die Schultern. Er ging sofort schnellen Schrittes los.
»Entschuldige mein rabiates Vorgehen, aber ich denke, wir bringen das jetzt so schnell wie möglich hinter uns.«
Zehn Minuten später hatten sie den Parkplatz erreicht, und Ralf ließ Naomi neben ihrem Auto wieder auf den Boden hinunter.
Neben ihrem Ka stand ein Boxster. Naomi interessierte sich nicht für Autos, aber man kann schwerlich in Stuttgart leben, ohne ein Mindestmaß an Kenntnis über die Porsche-Modellreihe zu gewinnen. Dieser Porsche hier war in jedem Falle bemerkenswert. Es handelte sich um einen offenen Roadster, der wohl schon ziemlich heruntergewirtschaftet, vor allem aber über und über bemalt war. Mit Blumen, Gesichtern und Ornamenten.
»Er ist dem 356er Porsche von Janis Joplin nachempfunden. Ein Freund von mir kann gut mit der Airbrush-Pistole umgehen«, sagte Ralf. »Glaubst du, dass du fahren kannst?«
»Das sollte nun wirklich gehen.«
»Möchtest du zu einem Arzt?«
»Nein, es geht schon. Ich denke nicht, dass der Knöchel wirklich verletzt ist.«
»Gut. Wie ich vorhin schon sagte: Ich würde mich gerne weiter mit dir unterhalten. Darf ich dich vielleicht heute Abend zum Essen einladen?«
Naomi zögerte. Es ging ihr alles viel zu schnell, sie war es nicht gewohnt, auf diese Art Kontakt aufzunehmen. Andererseits …
»Hmm. Ich habe meiner Wirtin versprochen, heute Abend bei ihr in der Traube zu essen … ich glaube, sie wartet auf mich.«
»Welche Traube?«
»Die in Neusatz.«
»Ah, bei der Ulli? Deren Angus-Steaks sind sehr gut.«
Naomi gab sich innerlich einen Fußtritt.
»Äh … wenn es dir nichts ausmacht, dorthin zu kommen …«
»Aber gerne. Sagen wir um acht? Oder wäre sieben Uhr besser? Ich glaube, ich bin jetzt schon hungrig.«
»Um sieben wäre für mich okay.«
Ralf wartete, bis Naomi in ihr Auto gestiegen war, dann folgte er ihr in seinem buntbemalten Boxster, bis sie in die Straße nach Neusatz eingebogen war.
*****
NAOMI atmete tief durch. Sie humpelte durch die vom Morgentau noch feuchten Weinberge an den Hängen um Neusatz und versuchte, ihrer Verwirrung Herr zu werden. Ralf und sie hatten gestern Abend zusammen gegessen, die Steaks, welche Ralf empfohlen hatte. Ulli hatte sie ihnen zubereitet und dafür extra den Holzkohlegrill angeworfen. Und das Essen war wirklich ein Traum gewesen. Ulli hatte serviert und sich dann diskret zurückgezogen. Irgendwie hatte Naomi den Eindruck gewonnen, dass Ralf und Ulli sich näher kannten. Wie nahe genau, hatte sie bisher allerdings nicht richtig ergründen können.
Nachdem sie Steaks und Salat gegessen hatten, sprachen sie über die Mordfälle und tranken dabei einen nicht näher etikettierten Rotwein. Naomi kannte badische Weine und fand sie zumeist etwas flach im Geschmack, doch dieser war dem französischen Roten sehr nahe, nur dass er reiner und natürlicher schmeckte. Vielleicht hatte sie deshalb etwas mehr getrunken als sonst.
Natürlich hatte Ralf sie verführt. Die diesbezügliche Unausweichlichkeit war Naomi schon am Wasserfall klar gewesen. Ihre Verwirrung gründete daher nicht auf der Tatsache selbst, dass sie mit Ralf geschlafen hatte. Ralf war auch kein schlechter Liebhaber gewesen, ganz im Gegenteil … Aber er hatte etwas getan, dass sie zutiefst verunsicherte: Er hatte ihr Befehle erteilt. Nicht etwa grob oder herrisch, aber er hatte sie mit einer sanften Selbstverständlichkeit herumkommandiert, die Widerspruch weder duldete noch überhaupt in Betracht zog. Er hatte ihre Bewegungen und Aktivitäten mit großer Selbstverständlichkeit gesteuert. Nicht, dass er ausgefallene Dinge von ihr verlangt oder sie zu irgendetwas gezwungen hätte, das sie nicht wollte. Aber er hatte ihr die ganze Zeit befohlen. Und sie war seinen Befehlen gefolgt. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie ahnte aber, dass Ralf in der Lage sein würde, sie tief zu verletzen. Und das beunruhigte sie.
Inzwischen hatte die Sonne an Kraft gewonnen, der Tau war verschwunden. Naomi kehrte also um und ging langsam zum Hotel zurück. Ihr Knöchel schmerzte zwar noch, aber es ging schon viel besser als am Vortag.
In der Traube empfing sie der Duft von Kaffee und frischen Brötchen. Ulli kam zu ihr, als sie den Frühstücksraum betrat. Sie trug wieder ihre anscheinend unvermeidliche knappe Trachtenlederhose und zur Begrüßung umarmte sie Naomi kurz.
Naomi war darüber ein wenig überrascht, auch wenn sie Ulli mochte, und sie fragte sich, ob diese körperliche Herzlichkeit mit Ralf zu tun haben mochte.
Das letzte, was sie jetzt gerade gebrauchen konnte, war, nun in anzügliche Gespräche über den gestrigen Abend verwickelt zu werden. Doch das hatte Ulli anscheinend nicht vor. Sie fragte Naomi nur, ob sie zum Frühstück Rühr- oder Spiegelei mit Speck haben wolle, und Naomi bat sie nach kurzem Zögern um Rührei. Ulli ließ sie in Ruhe, nachdem sie die Eier gebracht hatte, und Naomi war ihr sehr dankbar dafür. Sie hatte sich für den Nachmittag mit Ralf verabredet, und der Gedanke, ihn wiederzusehen, beunruhigte sie.
Конец ознакомительного фрагмента.
Читать дальше