Bei genauerer Betrachtung des Gesamtkomplexes »Vampirglaube« fällt auf, dass er sich keineswegs in durch Angst motivierten Leichenschändungsexzessen ausdrückt. Gerade der rituelle Stufenplan, der der Vampirvernichtung vorausgeht, diese sogar vermeiden hilft, zeigt, dass das Leben, der Umgang der Gemeinschaft mit dem Andersartigen im Vordergrund stehen. Die Vampir-, also Konfliktprophylaxe steht im Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Lebens. Sie zieht sich, wie wir gesehen haben, unabhängig von Krankheiten, Seuchen oder »unheimlichen« Todesserien durch das ganze Leben, von der Geburt bis zum Tod, und bezieht die Verstorbenen durchaus mit ein. Gemeinsame Rituale wirken stabilisierend, identitätsstiftend für eine Gemeinschaft. Und es sind gerade die Unterschiede im Prozedere oder bei den Abwehrmaßnahmen, die die Zugehörigkeit zur jeweiligen Region oder gar Dorfgemeinschaft untermauern und damit gemeinschaftliche Identität und individuelle Sicherheit stiften. Am Ende dient auch die im Einzelfall unvermeidliche Vernichtung des Vampirs der sozialen Stabilisierung. Die Vernichtung des verstorbenen »Sündenbocks« stellt die zuvor gestörte Ordnung, die Normalität wieder her. 27
Die spezielle Ausprägung des südosteuropäischen Wiedergängers und vor allem seine bis heute auffällige Präsenz im Volksglauben lassen sich auf eine Reihe von Ursachen zurückführen. So liefern weder das orthodoxe Christentum noch der Islam Erklärungen oder gar rituelle Hilfestellungen für die Zeit des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits. Die sogenannten linearen Hochreligionen lassen die Menschen ausgerechnet in dieser »Lebensphase« allein. Während nämlich die bäuerlichen Gesellschaften alltäglich erleben, dass nach dem Tod neues Leben entsteht, dass Leben und Sterben Teil eines Kreislaufs sind, bleiben die Hochreligionen beim Übergang vom weltlichen zum finalen ewigen Leben ausgesprochen vage. 28Ein Jenseits im Sinne einer Welt der Toten haben die Hochreligionen ohnehin nicht zu bieten. Damit greifen für die Übergangsphase vom Leben zum Tod nahezu zwangsläufig die überlieferten naturreligiösen Vorstellungen des über Jahrhunderte überlieferten Volksglaubens, die »rites de passage«. Wiedergänger, also Tote, die sich aus welchen Gründen und in welcher Form auch immer in der Welt der Lebenden herumtreiben, sind fester Bestandteil des Volksglaubens in aller Welt. Der Charakter und das Verhältnis zu den »Grenzgängern zwischen den Welten« unterscheiden sich je nach kulturellen und religiösen Rahmenbedingungen. Zweifellos ist die auffällig starke Verankerung des Wiedergängerglaubens in Südosteuropa auch der pragmatisch motivierten Glaubenstoleranz der osmanischen Herrscher zu verdanken. Schließlich waren die »Vampirregionen« über Jahrhunderte als Teil des Osmanischen Reiches von den kulturellen Entwicklungen des römisch-christlichen Abendlandes weitgehend isoliert. 29Damit konnten die seit Jahrhunderten mündlich übertragenen Volksmythen und -riten kultiviert und schließlich unter den Rahmenbedingungen der christlichen Orthodoxie und des Islam zum einzigartigen Vampirmythos weiterentwickelt werden.
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