Mark Polizzotti
Highway 61 Revisited
Bob Dylan’s Road Album
Aus dem Englischen von
Christine Heikamp
FUEGO
– Über dieses Buch –
Seit 50 Jahren dreht sich nun schon Highway 61 Revisited auf den Plattentellern der Welt, aber Mark Polizzottis Buch zeigt all das auf, was man bisher überhört hat. Mit seinen durchdachten und kompetenten Analysen fasst er das Wissen über das Album zusammen und fügt neue Ideen und Details hinzu. Damit trägt er zu einem tiefen Verständnis darüber bei, wie dieser Meilenstein in der Musikgeschichte entstand. Das Buch bietet eine eigenwillige, fesselnde Einführung und beschert allen Dylan-Fans einige neue Einsichten.
Bemerkenswert ist seine Sezierung der musikalischen Schichten eines jeden Songs des Albums und des Beitrags eines jeden Musikers zu den einzelnen Stücken. Aus vielen seiner Beschreibungen von den Entwicklungen der Stücke im Studio gewinnt man ein neues Verständnis von dem, was dort wirklich passierte.
Mark Polizottis Stil ist ruhig und einfühlsam, elegant und nie aufgeregt oder marktschreierisch. Man merkt ihm dennoch seine Begeisterung für das Werk an. Ein intelligentes Buch, das einen über die gesamte Lektüre hinweg fesselt.
»Die beneidenswerte Errungenschaft dieses Buches ist es, wirklich neue Dinge zu sagen, und das in knappen, energiegeladenen Sätzen ... Elementare Wahrheiten, die ich vorher noch nie gelesen habe.«
Michael Gray, Autor von The Bob Dylan Encyclopedia
I.
Die Platte zieht einen in ihren Bann, noch bevor man sie aus der Hülle nimmt. Es liegt an diesem Blick. Von niemandem sonst wurde man vom Plattencover herab so herausgefordert. Und auch für Dylan war das ungewöhnlich, obwohl bei ihm das Foto auf der Hülle ebenso Teil des Auftritts war wie die Musik darin – man denke nur an die selbstgefällige Anmache auf seinem Debüt 1962 und den fragenden Blick auf Bringing It All Back Home . Dieser Blick, den er einem von Highway 61 Revisited aus zuwirft, nötigt einen schon fast dazu, die Platte zu kaufen und auf den Plattenteller zu legen.
Heutzutage ist man finster dreinblickende Rockstars ja gewohnt; aber im Sommer 1965, inmitten von Sonny und Cher, den Beach Boys, den Lovin’ Spoonful und all den anderen grinsenden Combos, war das einfach unvorstellbar. Dylan war schon zehn Jahre vor Johnny Rotten der größere Punk.
Das Coverbild von Daniel Kramer ist inzwischen so berühmt geworden, dass es eigentlich keiner Beschreibung mehr bedarf: Dylan sitzt im Aufgang des Gramercy Park-Appartments seines Managers, das er nach Belieben nutzen konnte, und hinter ihm steht, allerdings nur bis zur Hüfte sichtbar, sein Reisekumpan und Hofnarr Bob Neuwirth.
Unter einem blau-lila gemusterten Seidenhemd trägt Dylan ein T-Shirt mit nur teilweise lesbarem Triumph Motorcycles -Schriftzug, in der rechten Hand hält er zusammengeklappt die berühmte Ray-Ban-Sonnenbrille. Sein Gesichtsausdruck unter der aufgelösten Haartolle, der sich kein Kamm zu nähern wagt, liegt irgendwo zwischen Herausforderung und Verdruss: er weiß, dass die Musik gut ist – die beste, die er je gemacht hat –, aber er erwartet nicht, dass wir das verstehen, und rüstet sich zum Kampf. Die leichte Neigung des Kopfes nach links betont die Ansage noch. (Auf einem anderen Bild dieser Serie sieht Dylan mit gerunzelter Stirn und geradem Kopf einfach nur gereizt aus.) Hinter seiner linken Schulter scheinen die Umrisse eines Motorradlenkers und -scheinwerfers erkennbar, möglicherweise ein Hinweis auf die Reiseassoziationen, die der Albumtitel weckt. Tatsächlich sind es nur die Griffe eines Kinderwagens, der dem Pärchen im Obergeschoss gehörte.
Kramer, der auch den verschwimmenden Innenraum auf Bringing It All Back Home in Szene gesetzt hatte, erzählte: »Wir sind einen Tag lang in New York herumspaziert, haben verschiedene Schauplätze ausprobiert und in einem Klamottenladen noch Outfits für Bob gekauft; auf dem Foto trägt er allerdings seine eigenen Sachen (…) Ich stellte [Neuwirth] hinter ihn, um mehr Farbe ins Bild zu kriegen«. v1Das so entstandene Foto wurde zum ultimativen Dylan-Porträt jener Zeit.
Doch die Geschichte hinter dem Bild, das einem heute so unvermeidlich erscheint, dient auch als Warnung. Schließlich war es nur eines von mehreren, die für den Titel zur Auswahl standen, und die Verbindung, die man zwischen dem Cover und der Musik entdeckt, existiert vor allem in der eigenen Vorstellung. Aber genau wie jener manisch streitlustige Journalist nicht aufhören konnte, Dylan auf der Pressekonferenz in San Francisco am Ende jenes Jahres zu löchern, warum er ein Triumph-T-Shirt getragen habe, kann man selbst einfach nicht aufhören, dieses Bild zu interpretieren. Irgendwas zwingt einen dazu, unbedingt wissen zu wollen, was dieses Bild bedeutet. Tatsächlich entstand das enigmatische Portät eher zufällig. Nachdem an drei, vier Schauplätzen bereits Aufnahmen gemacht worden waren, erzählte Kramer, »gingen wir irgendwann zurück zum Appartment (…) Da ich das Licht draußen immer noch geeignet fand, schossen wir noch ein paar Bilder auf den Stufen. Als wir später meine Vorauswahl durchgingen, fokussierte Bob sich völlig auf dieses Bild und fand, dass es sein Albumcover werden sollte. Obwohl da noch ein oder zwei andere Bilder dabei waren, die einen ebenso guten Titel abgegeben hätten. Und dann sagten die Leute: ›Dieses Foto ist Kult, was für ein Glück, dass du genau das ausgesucht hast.‹« v2
Kramer verweist auf das Beispiel des russischen Regisseurs Sergej Eisenstein und dessen berühmte Kompositionen, in denen er Nahaufnahmen von Gesichtern neben eine Vielzahl kontrastierender Szenen stellte: Soldaten, die nachladen; ein Kinderwagen, der die Stufen hinunterrumpelt. »Und wenn die Zuschauer das Gesicht nach einer dieser Szenen sehen, sagen sie: ›Der Gesichtsausdruck ist perfekt getroffen. Das zeigt, was die Person fühlt: Horror, Freude, Überraschung.‹ Man interpretiert das hinein.« Denn tatsächlich wurde das Foto für Highway 61 Wochen vor dem Album gemacht, nicht als Reaktion darauf: »Das Bild wurde vor der Musik aufgenommen. Wobei ich schon eine Ahnung hatte von dem, was Bob zu erreichen versuchte und wonach er suchte.« So wie wir jetzt, fünfzig Jahre später, glauben, dass wir in diesem Gesicht, das uns so trotzig ansieht, die Musik sehen, nach der wir suchen: Musik, die keine Konzessionen an den zeitgenössischen Geschmack macht und niemanden zu Rate zieht als sich selbst; Musik, die sich genau aus diesen Gründen so zeitlos anhört wie die alten Balladen, in denen sie wurzelt; Musik, die uns selbst nach all diesen Jahren immer noch das hören lässt, was wir hören wollen.
Highway 61 Revisited wurde am 30. August 1965 veröffentlicht, landete im November in den Billboard-Charts auf Platz 3 und bescherte Dylan das zweite Gold in Folge. Es steht an der Spitze einer monumentalen Trilogie von Alben, die – angefangen mit dem forschenden Geschreie auf Bringing It All Back Home und endend mit dem faszinierenden Exzess von Blonde on Blonde – in wenig mehr als einem Jahr aufgenommen wurden. Man könnte auch sagen: es stellt die Verbindung her zwischen Bringings unverfrorenem »Was könnt ihr mir sonst noch zeigen?« *1und Blondes erschöpftem »Ich warte darauf herauszufinden, welchen Preis man bezahlen muss, um all das nicht zweimal durchzumachen«. *2Die Platte ist von einzigartiger Direktheit, von Pragmatismus sogar: hart wie ein Diamant, kraftvoll wie ein V-8-Zylinder, auch mal fröhlich spontan, aber immer kontrolliert. Dylan beschrieb seine damalige Musik als »mathematisch«, und tatsächlich zeigt keines seiner Alben ein derartiges Gefühl für Präzision, während es gleichzeitig so tollkühn vorwärts rast. Mit »Like a Rolling Stone« enthält es zumindest einen Song, der zum Klassiker gesalbt und 2004 von der Zeitschrift, die seinen Namen trägt, zum größten Rock-Song aller Zeiten gekrönt wurde, dazu noch einige andere – »Ballad of a Thin Man«, »Just Like Tom Thumb’s Blues«, das epische »Desolation Row« –, die den Zenit von Dylans Songwriter-Karriere verkörpern. Und es ist eines der wenigen Alben, die Dylans erbarmungsloser Selbstkritik standhalten. In den Begleitheften bezeichnete er die Songs scherzhaft als »Übungen in tonaler Atemkontrolle«. Da war es sehr ungewöhnlich, dass er später im gleichen Jahr in einem Interview sagte: »[Meine Platten werden] ab jetzt nicht mehr besser werden (...) [ Highway 61 ist] einfach zu gut. Da ist eine Menge Zeug drauf, das sogar ich mir anhören würde.« v3
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