»Am einen Tag war er noch ein respektierter junger Liedermacher – am nächsten war er dieses Ding – die Stimme einer Generation. Der Mann, der alle Antworten hat . Alle wollten was von ihm, dauernd. Sag mir, was ich denken soll. Sag mir, für was ich stehen soll. Es war gnadenlos. Du oder ich hätten diesem Druck nicht standgehalten (…) Und Dylan hat das nicht nur ausgehalten, sondern er hat trotzdem weiter großartige Sachen gemacht, zu seinen eigenen Bedingungen. Aber während sein Leben immer surrealer wurde, wurde auch sein Schreiben immer surrealer.« v19
Man stelle sich die Überwältigung und das heillose Entsetzen vor angesichts des Wandels innerhalb eines Zeitraums von gerade mal vier Jahren von einem schüchternen, unbekannten Talent, das nur durch seinen natürlichen Charme und den festen Glauben an sein gottgegebenes Talent aufrecht gehalten wird, zu einem Teenie-Idol. Dylan hätte nie erwartet, wie sehr ihn das mitnehmen würde. In einem offenen Brief an das Broadside -Magazin schrieb er dazu:
»Manchmal wird es so schwer für mich
Ich bin jetzt berühmt
Ich bin jetzt berühmt nach den Regeln der
öffentlichen Berühmtlichkeit *7
es schlich sich an mich an
und pulverisierte mich ...
ich zitier mal Hr. Froid
Ich werd ziemlich paranoid ...«
In dieser Hinsicht scheint mir Highway 61 Revisited Dylans authentischstes Album zu sein, definitiv dieser Zeit, vielleicht sogar seiner gesamten Karriere. Dylan stellte zwar immer eine persona dar, was etymologisch stringent bedeutet, dass er immer Masken getragen hat: erst die der zartwangigen Unschuld seiner Folksänger-Tage, dann die mit Kinngestrüpp während seiner Country-Periode oder die unverhohlene, weiße Gesichtsbemalung der Rolling Thunder-Revue . Dagegen scheint Highway 61 der einzige Zeitpunkt zu sein, zu dem er uns und sich selbst zeigt, wie denn dieser Bob Zimmermann tatsächlich aussieht und klingt, das einzige Mal, dass er uns auffordert zu verstehen, wie sich das in Wirklichkeit anfühlt, Bob Zimmermann zu sein: ein Rock’n’Roll-Gör mit dunkler Fantasie, tonnenschwerer Attitüde und kiloweise Unsicherheit. Indem er den elliptischsten seiner Stoffe lieferte, machte er seine klarste Aussage.
Und wie bei jeder Verallgemeinerung dieser Art gibt es auch hier eine Einschränkung. Dylan probierte während seiner gesamten Karriere Stile und lotete Aspekte seiner Persönlichkeit aus, um sie dann – oft lange bevor der Rest der Welt eine Chance hatte, mit ihm Schritt zu halten – wieder aufzugeben. »Restless Farewell«, seine Abschiedserklärung auf The Times They Are A-Changin’ , ist nicht nur beispielhaft für das Ende seiner reflektierten, ernsthaften Phase der »Schuldzuweisung«, sondern auch für ein zusammengesetztes Flickwerk aus Originalstücken und den Leistungen anderer (in diesem Fall vom althergebrachten »Little Moses«, den er wahrscheinlich sowohl auf Harry Smiths Anthology als auch bei Baez gehört hat); und ganz allgemein als Hinweis darauf, dass er sich unabhängig davon, wo er sich gerade an einem bestimmten Tag befinden wird, in kurzer Zeit wieder »auf den Weg [macht] (…) und [sich] nen Dreck drum schert«. *8
In der persönlichen Mythologie Dylans hat der U.S. Highway 61 eine besondere und wiederkehrende Bedeutung. Die Autobahn verläuft durch Duluth in Minnesota, wo Dylan im Mai 1941 geboren wurde, dann nicht weit entfernt von Hibbing, einer alten, ihrer Ressourcen beraubten Eisenminenstadt, in der er aufgewachsen ist. Er war einer der Hauptstraßen, von der Dylan – fälschlicherweise – behauptete, er sei im Alter von »10, 12, 13, 15, 15 ½, 17 un’ 18 Jahren« v20auf ihr weggerannt, und auf der er – wahrheitsgemäß – als Teenager in das aufregende Leben der Twin Cities *9fuhr. Er war die Autobahn, die er im Januar 1959 nahm, als er die 75 Meilen zurück nach Duluth reiste, um Buddy Holly live zu sehen, gerade mal zwei Nächte vor dem tödlichen Flugzeugabsturz des Sängers. Im selben Jahr fuhr er später auf diesem Weg – sporadisch – zu seinem Unterricht an der Universität von Minnesota und – regelmäßiger – zu den Folkclubs in Minneapolis und St. Paul. In »Tangled Up in Blue« lässt sich der Erzähler von »den großen nördlichen Wäldern« runter nach New Orleans höchstwahrscheinlich an dieser Verkehrsader entlangtreiben.
»Der Highway 61, die Hauptverkehrsader des Country-Blues, beginnt etwa dort, wo ich herkomme«, schrieb Dylan in den Chronicles . »Ich hatte schon immer das Gefühl, als wäre ich einst auf ihr losgegangen, wäre immer auf ihr geblieben und könnte auf ihr überall hingehen, selbst ins tiefste Delta Country. Es war immer die gleiche Straße, mit den gleichen Widersprüchen, den gleichen Kleinstädten, den gleichen spirituellen Vorfahren (…) Sie war mein Platz im Universum, ich hatte immer das Gefühl, sie sei ein Teil von mir.« v21Dylan wirbelt nicht nur die prägenden musikalischen Spuren seiner Jugend auf, indem er auf dieser Straße reist, sondern bringt sie – wie das Vorgängeralbum schon andeutete – alle wieder zurück nach Hause.
Dylan sagte mal über die Gegend, aus der er kommt: »Es gibt keinen Ort, dem ich mich jetzt näher fühle, oder der mir so sehr das Gefühl gibt, dass ich ein Teil von ihm bin, New York vielleicht ausgenommen. (…) Ich bin echter North Dakota-Minnesota-Mittlerer Westen. Das ist meine Farbe. So spreche ich. Ich komme aus einer Gegend namens Iron Range. Mein Verstand und meine Gefühle kommen von dort.« v22Nachdem er ausreichend Abstand zwischen sich und den Norden gebracht hatte und nachdem er die Folkszene des Village und den Columbia-Produzenten John Hammond für sich gewonnen hatte und darauf wartete, dass sein zweites Album in die Läden kommt, konnte er seiner Heimatstadt im Frühjahr 1963 dann auch den folgenden zweideutigen Tribut zollen:
»Hibbing hat die größte offene Erzmine der Welt
Hibbing hat Schulen, Kirchen, Lebensmittelläden und
nen Knast (…)
Hibbing hat frisierte Autos,
die Freitag Nacht volle Pulle vorbeirasen
Hibbing hat Eckkneipen mit Polka-Bands
Man kann am einen Ende der Hauptstraße stehn und am
anderen Ende glatt über die Stadtgrenze rausschaun
Hibbing ist ne gute olle Stadt.« v23
Trotzdem bietet der Blick über die Stadtgrenze hinweg jedes Mal die gleichen trostlosen Aussichten: auf die Engstirnigkeit einer Kleinstadt, auf Sparmaßnahmen, lange, harte Winter und den völligen Mangel an Visionen – und Dylans Blick auf Hibbing war selten freundlich. »Es war nur so ‘ne Kleinstadt auf dem Weg nach nirgendwo«, meinte er später. »Man konnte dort kein Rebell sein (…) Es gab ja keine Philosophie oder Ideologie, gegen die man sich hätte auflehnen können.« Jeder Junge, der im Mittleren Westen (oder in einem Vorort) aufgewachsen ist, kennt dieses Gefühl zur Genüge: dass jenseits der Stadtgrenze etwas Größeres existiert, etwas anderes, etwas, das nur durch die Flucht zu erreichen ist. »Ich bin von zuhause weg, weil es dort nichts gab«, sagte Dylan 1965 zu Paul J. Rauben. »Ich werde jetzt nicht so tun, als wäre ich ausgezogen, um die Welt zu entdecken. Im Ernst, als ich da weg bin, wusste ich nur eins: ich musste da raus, und zwar für immer.« v24
Der Highway 61 erstreckt sich über eine Länge von 1700 Meilen vom Pigeon River an der kanadischen Grenze bis zum Golf von Mexiko; er ist die Hauptverkehrsader, die die kalte Bergbau-Region des Nordens mit den fruchtbaren blauen Wurzeln des Mississippi-Deltas verbindet. Er ist, zusammen mit seinem westlich gelegenen Vetter Route 66, der mythenumrankte Highway-Abschnitt Amerikas. Er führt an den Geburtsstädten und Heimatorten von Muddy Waters, Charley Patton, Son House und Elvis Presley vorbei. An der Kreuzung der Highways 61 und 49 hat Robert Johnson angeblich seinen Pakt mit dem Teufel geschlossen; sein Grab liegt heute in der Nähe des Highway 61 in Greenwood, Mississippi. »Der Highway 61 ist ein enormes Symbol in der amerikanischen Musik, weil auf dem Mississippi, der über weite Strecken parallel zu ihm läuft, auch der Jazz hochreiste«, schreibt Robert Shelton. »Der Jazz kam den Fluss hinauf. Der Blues kam den Fluss hinauf. Eine Menge der großartigen Grundlagen amerikanischer Kultur sind genau über diese Straße und auf diesem Fluß nach oben gereist.« v25Der Abschnitt des Highway 61 in der Nähe von Clarksdale in Mississippi ist jene Straße, auf der Bessie Smith, die Kaiserin des Blues, 1937 bei einem Autounfall tödlich verunglückte, weil man sich damals Zeit damit ließ, Schwarzen zu helfen, und führt am Memphis Hotel vorbei, in dem Martin Luther King Jr. rund dreißig Jahre später ermordet wurde.
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