Diese Angaben sind plakativ, provokant oder poetisch, funktionieren als Song- und Albumtitel, taugen als Parolen, beinhalten eine Drohung, eine Liebeserklärung oder andere Versprechen. Auch wenn man durch sie eine ungefähre Vorstellung davon bekommt, welche symbolische Bedeutung mit dem Begriff Rock and Roll verbunden sein kann, eine konkrete Antwort auf die Frage was Rock and Roll ist bieten sie leider nicht.
In der folgenden wissenschaftlichen Arbeit wird dieser Frage umfassend nachgegangen. Dazu wurde die prinzipielle Fragestellung durch weitere Fragen wie „Was ist Rock and Roll-Gitarre?“ und „Welches sind die stilprägendsten und einflussreichsten Werke der Ära?“ erweitert und präzisiert. Der Blickwinkel auf das Instrument E-Gitarre wurde aus zwei Gründen gewählt: Ein persönlicher Grund ist, dass ich mir diese Fragen bei meinen eigenen Recherchen auf dem Feld der Populärmusik, während meiner Unterrichtstätigkeit als Instrumentallehrer, aber auch als praktizierender Musiker immer wieder selbst gestellt habe. Zusätzlich bin ich auch von Schülern, Studenten und anderen Interessierten dahingehend befragt worden (in regelmäßigen Abständen begegnen mir Fragen wie „Was ist Rock?“, „Was ist Jazz?“, „Was ist Swing?“, „Was ist Blues?“ oder noch besser „Was ist/Wie kriege ich das Feeling?“). Ein sach- bzw. fachspezifischer Grund ist, dass die Solidbody E-Gitarre ab den frühen 1950er Jahren zum zentralen Instrument der zeitgenössischen Populärmusik und vieler nachfolgender Musikstile wird. Der Ära des Rock and Roll als erster Phase dieser Entwicklung gebührt deswegen eine umfassende musikwissenschaftliche Betrachtung.
Der Musikstil Rock and Roll und die instrumentalen Ausprägungen der Rock and Roll-Gitarre manifestieren sich in den authentischen Original-Einspielungen der Ära. Der zeitliche und territoriale Rahmen der musikalischen Stilistik Rock and Roll wird in der Einleitung der Arbeit definiert (Kap. 1). Um dem bis hierhin noch abstrakten Begriff Rock and Roll-Gitarre eine konkrete Grundlage zu geben, wird im zweiten Teil (Kap. 2) mit Hilfe eines eigens entwickelten empirischen Verfahrens eine Werkesammlung bzw. Liste von 50 Einzeleinspielungen der Rock and Roll–Gitarre generiert. Im dritten Teil der Arbeit (Kap. 3) werden sieben repräsentative Einspielungen dieser Liste auf der Grundlage umfangreicher, selbst erstellter Transkriptionen mit traditionellen und modernen musikwissenschaftlichen Mitteln einer umfassenden Analyse unterzogen und stück- und stilspezifische Charakteristika formuliert. Im letzten Arbeitsschritt werden die Ergebnisse der Analysen herangezogen um Beziehungen zu vorangegangenen und nachfolgenden Einspielungen und Instrumentalisten herzustellen und so Indizien für einen musikalischen Einfluss vorzulegen.
In den verschiedenen Teilen der Arbeit werden Mittel der modernen und traditionellen Musikwissenschaft miteinander kombiniert. Sie beinhalten unter anderem gesellschafts- und musikgeschichtliche, empirische, ethnologische, analytische und musikakustische Ansätze. Die damit beschriebenen Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks dokumentieren meine Suche nach den stilprägendsten und einflussreichsten Instrumentalparts der Rock and Roll-Gitarre.
Danksagung
Für die fachliche Unterstützung bedanke ich mich bei Andreas C. Lehmann, Jan Hemming, Volkmar Kramarz und Stephan Richter. Außerdem bedanke ich mich bei Tommi Neubauer, Jochen Volpert, Patrick Wötzel, Dietmar Rudolph, Fred Sokolow, Jim Dawson und Jim Stringer.
Ein ganz besonders herzlicher Dank geht an meine Eltern Thomas und Heidelore Schütze, meine Frau Andrea Kneis und unsere Kinder Mathilda, Ludwig, Ferdinand und Marie. Ich werde ab jetzt wieder öfter für euch da sein.
Dennis Schütze, Würzburg im Mai 2012
My my, hey hey (out of the blue)
My my, hey hey,
Rock and roll is here to stay,
It’s better to burn out than to fade away,
My my, hey hey.
Out of the blue and into the black,
They give you this but you pay for that,
And once you’re gone you can never come back,
When you’re out of the blue and into the black.
The king is gone but he’s not forgotten,
This is the story of Johnny Rotten,
It’s better to burn out than it is to rust,
The king is gone but he’s not forgotten.
Hey hey, my my,
Rock and roll can never die,
There’s more to the picture than meets the eye,
Hey hey, my my.
(Neil Young, 1979)
1. Einleitung
1.1 Rock and Roll
1.1.1 Zum Begriff Rock and Roll
„Rock and roll is a river of music that has absorbed many streams: rhythm and blues, jazz, rag time, cowboy songs, country songs, folk songs. All have contributed to the big beat.“
(Rock and Roll-Promoter Alan Freed im Film „Rock, Rock, Rock“, 1956)
Die Worte „rock“ und „roll“ bzw. „rocking“ und „rolling“ tauchen in Songtexten der afro-amerikanischen Populärmusk der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Sie werden in ihrer Kombination („rockin’ and rollin’“) von schwarzen Rhythm and Blues-Sängern gerne als spielerische Umschreibung für den Geschlechtsakt verwendet. Zur Bezeichnung einer musikalischen Stilistik wird der Begriff ab dem Juli 1951, als der Disk-Jockey Alan Freed bei dem Radiosender WJW in Cleveland, Ohio eine Show mit dem Schwerpunkt Rhythm and Blues startet, die sich dezidiert an junge, weiße Hörer richtet und den Namen „Moondog’s Rock and Roll Party“ trägt. Durch seine Sendung, die Veranstaltung von Konzertreihen und Auftritte in Kinofilmen hat er einen entscheidenden Anteil an der Etablierung des Begriffs, der jedoch bis heute nur lose definiert ist. Ein wichtiges gemeinsames Merkmal der Vertreter der neuen Stilistik ist von Anfang an die Zusammenführung von schwarzen und weißen Musiktraditionen und Zuhörern und damit das bewusste Verwischen der bis dahin geltenden stilistischen Zuordnungen. Da der neu entstandene Musikstil Rock and Roll keiner bestehenden kommerziellen Kategorie eindeutig zuzuordnen ist, erscheinen Chartnotierungen von veröffentlichten Singles zum Teil in zwei, manchmal sogar allen drei bis dahin bestehenden Kategorien der Billboard-Charts (Popular, Rhythm & Blues und Country & Western). Diese Unklarheit bezüglich der Zugehörigkeit ist wie bei kaum einer anderen Stilistik bis heute spürbar. In der um Einteilungen sicherlich nicht verlegenen Musikbranche existiert bis heute keine kommerzielle Kategorie mit dem Titel „Rock and Roll“. Auch eine entsprechende Billboard-Chart, auf die man bei der Beschäftigung mit dem Thema gerne zurückgreifen würde steht nicht zur Verfügung.
Während die Entstehung des Begriffs Rock and Roll als Bezeichnung für die musikalische Stilistik relativ klar hergeleitet werden kann, gibt es unter Fachleuten bis zum heutigen Tag eine äußerst kontroverse Diskussion bezüglich der musikalischen Anfänge des Genres. Zum Teil sind komplette Bücher dieser Frage gewidmet (z.B. Dawson 1992). Obwohl landläufig die 1950er Jahre als Blütezeit des Rock and Roll gelten, werden von manchen Forschern erkennbare musikalische Merkmale des Rock and Roll bereits in Tonaufnahmen aus den 1910er und 1920er Jahren gefunden (Johnstone 2007). Spätestens jedoch im Country Blues der 1930er und Jump Blues der 1940er Jahre meinen Gillett (1980), Dawson (1992) und Tosches (1999) den inoffiziellen, musikalischen Beginn des Genres gefunden zu haben, auch wenn damals noch niemand den Begriff Rock and Roll zur Beschreibung des Musikstils verwendete. Auch wird das Ende des Genres sehr unterschiedlich wahrgenommen. Für einige endet die Ära des Rock and Roll bereits im Jahr 1956 (Tosches 1999), also in dem Jahr, in dem Elvis Presley seinen ersten nationalen Hit verzeichnen konnte. Gillett (1980) beendet in seinem Standardwerk „Sound and the City“ die dazugehörige Diskographie dagegen erst im Jahr 1971. Im folgenden eine tabellarische Übersicht, gelistet nach Erscheinungsjahr zum veranschlagten Beginn und Ende der Rock and Roll-Ära in einer Auswahl einschlägiger anglo-amerikanischer Fachliteratur, die hierzu eine numerische Angabe wagt.
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