Also machte sich Ronny auf den Weg. Nicht ohne Bedacht hatte er sich den Abend des 30. April für seine Ankunft gewählt: Im heidnischen Kalender entsprach das Beltane – Fruchtbarkeitsfest, Zeit des Chaos, des Sex, der ungezügelten Energie, der Stärke und Reife. Welcher Tag, wenn nicht dieser! Die uralten Symbole und Stationen im Jahreslauf waren wichtiger, als manch einer heute dachte.
Als Ronny aus den Hallen des trutzigen Hauptbahnhofes trat, fiel sein Blick als erstes auf das gewaltige dreieckige Delta-Gebäude, das direkt daneben mit seinen spiegelnden Fassaden über den Dächern der Stadt thronte. Große Athene, Göttin der Städte, durchfuhr es Ronny, was musste das für ein Gefühl sein, dort oben ein Büro zu besitzen und all die Menschen, die hier wimmelten, wie Ameisen zu seinen Füßen zu haben!
»Ich will so hoch hinaufsteigen, dass ich, wenn ich scheiße, niemanden verfehle.« Das war schon immer Ronnys Credo gewesen, wenn auch zunächst nur insgeheim. (In Bewerbungsschreiben, die er an mögliche Arbeitgeber in der nächsten Kreisstadt Bad Schwalbach versandt hatte, hätte dieser Satz immer etwas deplatziert ausgesehen.) Jetzt sah er zum ersten Mal seine Chance gekommen. Er wusste nicht einmal genau warum, aber irgendwie war es, als ob Wiesbaden mit all seinen Möglichkeiten als ein einziges Versprechen auf ihn wartete.
Und so wandelte er zum allerersten Mal über die Straßen, von denen es hieß, dass sie mit Sperma und Blut geteert waren, und er durchstreifte die Häuserschluchten, in denen immer noch Frauenschreie vergangener Jahre nachzugellen schienen.
In den Wochen darauf machte ihn Norbert näher mit den Gegebenheiten des Molochs vertraut, bläute ihm insbesondere ein, welche Zonen zum Hoheitsbereich welcher Banden gehörten. Etwas, das in Wiesbaden nicht gerade übersichtlich gegliedert war. »Mit meinem roten Jaguar muss ich verdammt aufpassen, nicht falsch abzubiegen«, erklärte Norbert. »In manchen Vierteln verneigen sie sich vor dir. In anderen schlagen dir die Jugos die Fresse ein.« Ronny erfuhr, dass das Westend ein Zuhause für Menschen aus über 50 Ländern darstellte, wobei die Türken die Hoheit besaßen. Der Einfluss des kriminellen Teils dieser bunten Mischung reichte über die Mauritiusstraße und die Citygalerie bis in die Fußgängerzone. Klarenthal hingegen wurde von den Russen kontrolliert, der Schiersteiner Hafen von Malaien, den Wiesbadener Drogenhandel beherrschten die Marokkaner. Im Parkcafé und im Europalace konnte man am besten weibliches Fickfleisch aufgreifen, wobei letzteres Etablissement seit diversen Schlägereien, Raubüberfällen, einer behaupteten Vergewaltigung und einer tödlichen Messerstecherei zwischen einem US-Soldaten und einem Italiener etwas viel unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Falls man mehr auf Knaben und junge Männer stand, boten die Reisinger-Anlagen am Hauptbahnhof eine breite Palette zwischen 13 und 18 Jahren. Ronny lernte, welche Internetcafés der Geldwäsche dienten und in welchen Fitnessstudios man am besten Nachwuchs rekrutierte. Er erfuhr, dass man nirgendwo einfacher Autos knacken konnte als nachts auf dem extrem schlecht beleuchteten Park&Ride-Parkplatz auf der Mainzer Straße, und er bekam die Stellen des Rheins gezeigt, wo sich bestimmter Schleusen wegen starke Strudel bildeten, die unerbittlich alles und jeden in die Tiefe zogen. Natürlich führte Norbert Ronny auch an die diversen heidnischen Begegnungsstätten, auf denen Wiesbaden letztlich errichtet worden war, von der Blutlinde von Frauenstein bis zu dem versteckten Opferplatz im Schatten der russisch-griechischen Kapelle am Neroberg.
In den Jahren danach arbeitete sich Ronny in der Wiesbadener Unterwelt nach oben. Er lernte, wie man die Mädchen besorgte, sie gefügig machte und abrichtete. Wegen seiner sexuellen Aggressivität und seiner heidnischen Orientierung hatte er bald den Namen des ständig lüsternen Waldgottes Pan als Ehrentitel erhalten. Norbert wurde das Treiben in Wiesbaden irgendwann zu heiß, und er setzte sich ab in das vergleichsweise beschauliche Frankfurt. Ronny stieg in der Hierarchie auf und gewann Murat als Kumpel und Gefolgsmann in einem. Schließlich erweckte Ronny das Interesse Thums, des Paten, der sich mit ihm verabredete – im Restaurant des Wiesbadener Nobelhotels »Schwarzer Bock«. Ronny musste innerlich grinsen, als er dort an einem der edel gedeckten Tische Platz nahm, zwischen den Bildern modernster Kunst und einem Blick auf den efeudurchrankten Innenhof. Der »Schwarze Bock«: Wie viel deutlicher als durch diesen Namen für jenen Ort, an dem die wahren Herren der Stadt speisten, fernab von Rathaus und Landtag, hätte man es noch machen können, welche Sicht der Dinge in Wiesbaden tatsächlich immer noch dominierte? Der »Schwarze Bock« war natürlich nichts anderes als eine Anspielung auf jenen bockbeinigen Gott Pan, Verkörperung von sexueller Gier und Boshaftigkeit zugleich, den die christliche Kirche als Vorlage für ihre Teufelsvorstellung genommen hatte, um damit das Heidentum als Verkörperung des Bösen zu brandmarken und es so zu unterdrücken, wenn nicht ganz zu vernichten. Aber im Untergrund lebte es immer noch, eroberte sich auf uneinsehbaren Pfaden Macht und Einfluss zurück und verlangte noch immer seine Opfer.
Es war wie bei der menschlichen Seele: Was einer gewaltsam ins Unterbewusstsein verdrängte, um es nicht mehr wahrzunehmen, hatte seine Macht dadurch keineswegs verloren. Vielleicht war es sogar noch mächtiger geworden, indem es sich jedem bewussten Einfluss entzog und jetzt aus dem Geheimen wirkte, sich an unerwarteten Stellen zu Wort meldete. Die meisten Wiesbadener, das merkte Ronny schnell, wussten nichts von dem jahrtausendealten Erbe ihrer Stadt. Die offizielle Geschichtsschreibung begann erst mit der Römerzeit. Davor aber hatte man auf andere Weise gebetet. Etwa zu Sirona, der keltischen Göttin der Unterwelt. Heute trug ein Wiesbadener Frauengesundheitszentrum diesen Namen. Seine Flyer lagen in den unterschiedlichsten städtischen Einrichtungen aus, bis hin zur Landesbibliothek, aber kaum einer, der diesen Namen las, wusste, was es damit auf sich hatte.
In eben jener Landesbibliothek, einem beeindruckenden Gebäude, das vielleicht noch am ehesten Zugang zu den vergessenen Zeiten gewährte, erkundete Ronny an einem freien Abend die Wiesbadener Stadtgeschichte ein wenig näher. Amüsiert las er, dass schon im Mittelalter manche Mönche vor den Wassern der Kurstadt gewarnt hatten – denn dort gab es die Bademädchen, Expertinnen in Sachen »Tanz, Massieren und besondere Kräutermischungen«, wie es hieß. Die Bäder von Wiesbaden, so bekundeten christliche Würdenträger, seien »Fest des Bauches, öffentliches Haus der Venus, Spielwerk des Teufels«. Anständige Frauen, die diese aufsuchten, kehrten als »Teufelsweiber« zurück, sobald sie einmal von den wallenden Dämpfen in eine Laune gebracht worden waren, die sie glauben ließ, sie befänden sich im irdischen Paradies, und alles um sie herum sei schön.
Ronny musste grinsen, als er das damals gelesen hatte. Sex, Drogen und moralische Korruption … Je mehr sich die Dinge änderten, desto mehr blieben sie doch dieselben. Was diese Mönche wohl gesagt hätten, wenn sie Wiesbaden 600 Jahre später gesehen hätten? Der gleiche Sündenpfuhl, nur unglaublich viel größer, noch verkommener, jetzt Menschen aus aller Herren Länder beherbergend und aus dem Untergrund heraus regiert von einem Menschen namens Martin Thum. Dem geheimen Herren der Bäder.
Und mit diesem Thum hatte sich Ronny damals unterhalten, im »Schwarzen Bock«, über gebeiztem Lachs mit Mango-Chutney und Honigkokos-Mousse mit Erdbeeren. Das Gespräch verlief für beide zur größten Zufriedenheit. Kurze Zeit später stieg Ronny zur rechten Hand des Paten auf. Und beim gemeinsamen Golfspiel lernte er schließlich dessen mörderscharfe Tochter Julia kennen …
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