Ein missmutiges Grunzen. »Hören Sie mal, ja? Ich war und bin mit allem, was ich mache, sehr erfolgreich. Das ist es, was hier zählt. Der Markt kennt keine Moral, keine Unterscheidung in gesellschaftlich wertvoll oder schädlich. Er kennt nur Angebot und Nachfrage, Gewinner und Verlierer. Eigenverantwortung und Wettbewerb – das ist es, was zählt!«
Silbig schluckte. Wie sollte er dem Mafiapaten von Wiesbaden diplomatisch beibringen, dass er modernen Sklavenhandel und brutale Gewalt gegen Menschen irgendwie problematisch fand? »Sie bringen Leute um«, wandte er schließlich schüchtern ein. Er hoffte, dass das nicht allzu vorwurfsvoll oder naseweis klang.
Thum verdrehte die Augen. Er wirkte wie jemand, der sich gerade fragte, wie er diesem Jüngelchen diplomatisch beibringen sollte, dass hier in Wiesbaden die Uhren etwas anders tickten als im Rest des Landes. »Haben sie schon mal etwas von ›Survival of the fittest‹ gehört? Das Überleben der Tüchtigsten? Das Kroppzeug wird ausgejätet, und zum Schluss hat man eine Gesellschaft von Menschen, die wirklich in der Lage sind, sich zu behaupten und die Welt voranzubringen. Ich versichere Ihnen, es hat, seit ich hier in Wiesbaden etwas zu sagen habe, kein einziges Mal Fälle von unnötiger Gewalt gegeben. Wenn wir in dieser Hinsicht aktiv wurden, dann nur, wenn wir uns zur Wehr setzen mussten, wenn es Profit brachte, oder wenn uns jemand dabei im Wege stand. In solchen Fällen wird er natürlich weggeputzt, das ist klar.«
Silbig rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Verstehen Sie meine Einwände bitte nicht als Kritik. Aber es ist ja auch so, dass wir, also wenn wir das Manuskript anbieten, müssen wir uns ja auf Einwände, die zu erwarten sind, da müssen wir uns schon irgendwie drauf vorbereiten. Viele deutsche Verlage beurteilen Morde, Schutzgelderpressungen und Drogengeschäfte immer noch ein bisschen ungnädig. Dann heißt es oft schnell: Das ist gegen das Gesetz … Oder wir fangen uns die Kritik ein, wir würden mit diesem Titel PR für eine kriminelle Vereinigung betreiben.«
»Und das ist genau der Zahn, den wir den Leuten mit diesem Buch ziehen wollen!« Thum schlug mit der Pranke auf seinen Schreibtisch. »Das ist ein völlig falscher Blickwinkel! Der Grundirrtum ist, dass der Staat sich immer noch in das reinhängen will, was eigentlich Sache der Wirtschaft wäre. Wir sind keine kriminelle Vereinigung. Wir akzeptieren nur einfach diese ständige Einmischung nicht. Wir sind autark ! Und als autonome, außerstaatliche Gesellschaftsform haben wir natürlich unsere eigenen Regeln, die andernfalls der Staat übernehmen würde. Sie sagen: Wir bringen Leute um. Das ist nichts anderes als unsere Form der Todesstrafe. Würden Sie die USA als eine kriminelle Vereinigung bezeichnen?« Er sprach jetzt schneller, redete sich ein wenig in Rage. »Wir handeln mit Drogen, sagen Sie. Was ist mit der staatlichen Tabaksteuer? Wir wollen eine finanzielle Entlohnung dafür haben, dass von uns betreute Einzelhändler in Ruhe ihrem Geschäft nachgehen können, dass ihnen nichts passiert – auch nicht durch Leute, die mit unserer Organisation gar nichts zu tun haben. Das nennen Sie Schutzgelderpressung. Und wir haben unser Schweigegebot, die Omerta , das ist unsere Form des Datenschutzes. Aber wir nutzen auch der Gesamtgesellschaft. Etliche Menschen, die auf dem offiziellen Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben, kommen bei uns unter, bis hin zu hoch ausgebildetem Fachpersonal. Chemiker, Chemiefacharbeiter, Apotheker und Pharmazeuten, die sonst auf der Straße säßen, werden von uns engagiert, um neue Genuss- und Aufputschmittel zu erzeugen. Den Gewinn, den wir damit machen, lassen wir auf einem Weg, den unsere Kritiker Geldwäsche nennen, wieder in die Wirtschaft fließen, gründen kleine Unternehmen, bauen sie aus, kurbeln so den allgemeinen Wohlstand an. Das wird vom Durchschnittsbürger bis jetzt alles noch gar nicht gesehen! Aber genau darum geht es mir! Jeder darf uns kritisieren, natürlich, das ist ein freies Land. Aber viele Leute hacken auf uns herum, die zu anderen, ebenso üblen Zuständen die Klappe halten. Und unser Standpunkt kommt in den Medien so gut wie überhaupt nicht vor! Ich möchte, dass wir das ändern. Ich will, dass wir all diese Fakten in unserem Buch rüberbringen.«
Silbig wusste einen Moment lang nicht, was er erwidern sollte.
»Falls Sie mit im Boot sind«, ergänzte Thum. »Aber deswegen sprechen wir ja gerade miteinander. Soll ich Ihnen sonst noch irgend etwas erklären?« Er warf einen missmutigen Blick auf seine Uhr. »Oder haben Sie sich schon entschieden? Kann ich auf Ihre Unterstützung zählen?«
6
Mit schmerzverzerrtem Gesicht betastete Ronny seine Nase. Immerhin schien sie nicht gebrochen zu sein. Auch seine Rippe war noch heil. Er wusste nicht, ob Thum das beabsichtigt hatte oder nicht. Sicher war, dass der Alte ihn fertig machen wollte.
Zum Schluss hatte Ronny zusammengekrümmt auf dem Boden gelegen, ein einzelnes, bewegungsunfähiges Bündel Schmerz, nur noch zu einem flachen, keuchenden Atmen in der Lage. Über ihm türmte sich die massige Gestalt des Paten. Thum ließ die Fotos von Ronny und Julia auf ihn herabregnen und teilte ihm mit, dass er 24 Stunden Zeit hatte, die Stadt zu verlassen. Ein letztes Treffen mit Julia kam ausdrücklich nicht in Frage. Andernfalls würde Ronny noch diese Woche in Wiesbaden sein Grab finden.
Dann zog Thum ab, mit Bruno im Schlepptau. Die Tür krachte ins Schloss. Ronny blieb zusammengekrümmt liegen. Etwas später hörte er tappende Schritte von bloßen Füßen. Die nackte Schlampe, an deren Namen er sich gerade nicht erinnerte, tauchte in seinem Blickfeld auf. Sie hatte ihre Hände jetzt doch vor ihren Körper geschlagen, blickte Ronny entsetzt an. Er war noch immer nur zu einem rasselnden Atmen in der Lage. Schließlich streifte sie hurtig ihre wenigen Klamotten über und huschte davon.
Er hatte offenbar nicht erwarten können, dass sie ihn verarztete.
Miststück.
Nach einer Weile schaffte es Ronny, ausreichend Kräfte zu sammeln, um sich in die Höhe zu stemmen. Gottlob waren es bis zur Couch nur ein paar Schritte. Dort hinein ließ er sich wieder fallen. Immerhin lag es sich hier bequemer als auf dem kalten Fußboden. Seine Zunge fuhr über die angeschwollene Lippe.
Sobald er sich von dem Schock halbwegs erholt hatte, begannen seine Gedanken zu rasen.
War das denn möglich, was gerade passiert war? Offenbar ja. Gab es noch eine Möglichkeit, sich mit Thum wieder zu verständigen? Offenbar nicht. Aber das durfte doch nicht wahr sein! Was für verfluchte Fotos waren das eigentlich, und wie waren sie in Thums Hände gelangt? 24 Stunden! Das war doch ein Unding! Er konnte doch nicht von jetzt auf gleich seine Zelte hier in der Stadt abbrechen. Nicht, nachdem er es so weit geschafft hatte!
Wiesbaden hatte immer schon eine große Faszination auf ihn ausgeübt, schon als er noch ein Teenager gewesen war. Ronny war etwa 30 Kilometer von der Stadt entfernt in der Gemeinde Heidenrod groß geworden – ein wahrhaft sprechender Name. Das Christentum hatte sich dort niemals ganz durchsetzen können, und gerade zur Jahrtausendwende feierten hier neuheidnische Kulte ihre Wiedererweckung. Ronny schloss sich ihnen an, lernte die Jahresfeiern ebenso kennen wie die Sexualrituale, denen er bald sein besonderes Interesse widmete. Woraufhin ihn eines Nachts sein Kumpel Norbert darauf ansprach, ob Ronny seine Begierden nicht einmal auf etwas professionellere Weise ausleben wolle. Er kenne da jemanden in Wiesbaden, der könne einen wie Ronny in seinen Reihen gerade gut gebrauchen.
Ronnys Herz schlug augenblicklich schneller, als er den Namen dieser Stadt hörte. Wiesbaden! Kaum zu glauben, welche Assoziationsflut allein dieser Name in seinem Kopf auslöste. Nizza des Nordens! Luxus und Sünde in einem! Die deutsche Stadt mit dem höchsten Anteil an Millionären, aber zugleich Hochburg und Drehscheibe des internationalen Verbrechens. Der Frankfurter Flughafen war nicht weit, und nicht umsonst hatte auch das BKA gerade in Wiesbaden seinen Sitz bezogen. Gewaltige Chancen zu Macht und Reichtum. Aber auch: moderner Sklavenhandel, Zwangsprostitution, Menschenverachtung, Gewalt. Hier hatte Roland Koch seine Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft begonnen. Und der letzte Politiker, der in Wiesbaden Recht und Ordnung verkörpert hatte, war ausgerechnet Manfred Kanther gewesen. Diese Stadt war ein Sumpf. Und versprach jedem, der bereit war, seine Skrupel zu vergessen, doch den Weg zu unvorstellbarer Macht.
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