Dann wartete er.
Bis zur Dämmerung war es noch eine Stunde, als den Hügel herauf scharfe Laute an sein Ohr zu dringen begannen, so schwach, dass sie kaum zu hören waren. Zuerst hielt Talbot sie für das Knistern eines Lagerfeuers. Er wandte langsam den Kopf, mit jedem Ruck einige Grade, um die Richtung auszumachen. Vorsichtig stand er auf und starrte durch die letzten Scherben eines zerbrochenen Scheunenfensters hinaus. Es kam vom Schuppen. Knister. Knister. Knister.
Er hatte keine Schritte gehört. Der Hund hatte nicht gebellt. Die Küchenfenster waren dunkel. Die Laute ließen nicht nach.
Sollte er sprengen? Seine Hand zitterte; eine Hand über dem Glas der Taschenlampe, tastete er mit der anderen nach dem Kolben. Er war unschlüssig. Er zögerte.
Talbot ging den Hügel hinab, um durch die Ritzen in den grauen Brettern zu spähen. Drinnen sah er, im Schein einer Laterne, den flachsköpfigen Jungen neben dem Haufen weichen Gebäcks — fast direkt über dem Bündel Dynamit.
Er packte die kleinen Napfkuchen aus, warf die Papierhüllen in ein Fass und das Gebäck in die Grube. Talbot drückte ein Auge gegen den Schlitz im dunklen, trockenen Holz der Scheune, als der Junge eine Moon Pie probierte, ein rundes gelbes Konfekt mit einer weißen Cremefüllung. Der Junge spuckte den Bissen in die Kuhle mit dem Rest des klebrigen Zeugs.
Talbot öffnete den Riegel an der Tür und trat ein. Die Augen des Jungen wurden groß vor Angst, als er vor sich etwas sah, von dem man ihm zeitlebens beigebracht hatte, es käme unter allen Gefahren der Schöpfung gleich nach dem Teufel — ein großer, muskulöser Schwarzer mit einer Waffe. Talbot legte den Finger an die Lippen — schhhh! »Nicht schreien. Dir passiert nichts. Ich will nur eines — dass du mir deinen Namen sagst.«
»Johnny Ray Slage.«
Talbot sprach langsam und eindringlich. »Ich möchte nicht, dass zu zum Klan gehst, wenn du groß wirst. Hörst du? Du musst dieses Gift loswerden. Ich werde dir dabei helfen. Ich werde dir Sachen schicken, mit der Post. Wie ist denn eure Adresse hier? Habt ihr eine Hausnummer?«
Der Junge sagte sie ihm.
»Du brauchst einen Lehrer. Und ich werde das übernehmen.« Talbot grub in dem Kuchenhaufen und zwickte die Drähte ab, die zum Dynamit führten. Mit behandschuhten Fingern holte er das Bündel heraus, zog die Sprengkapsel ab, verabschiedete sich und lief dann im Trab über den Hof und dann den Hügel hinauf. Er fragte sich, ob Johnny Ray wohl nach seinem Paps schreien würde. Es blieb still.
Er blieb stehen und blickte zurück auf das Haus. Nichts rührte sich. Er reagierte ganz instinktiv. Er änderte die Richtung und stürzte auf das Haus zu, sprang über den Zaun, wich den Reifenstapeln und Farmwerkzeugen aus wie ein Querfeldeinläufer; sein kaputtes Knie erinnerte ihn daran, dass Slage es ihm auf einem Busbahnhof mit einem Rohr zerschlagen hatte. Er lief auf den Abort zu, wo er die Plane wegzog und sich eine Handvoll der Flugblätter mit den Hassparolen schnappte, die er zu Hause an der Lower East Side Sam Thomas geben wollte.
Dann ging es wieder zurück zu der Scheune im Wald, wo er sicher war. Im Schein der Taschenlampe überquerte Talbot den bewaldeten Grat und kletterte dann ein trockenes Bachbett hinab ins nächste Tal, wo er den Sprengstoff und die Waffe so vergrub, dass er sie später wiederfinden würde, falls ihm danach war.
Er stieg abermals hinauf auf den Grat des Hügels und folgte ihm zirka eine Meile, bis er den Laubwald Alabamas mit einem scharfen Schwenk hinter sich ließ und neben der Straße nach Birmingham lief.
A LS LEBE MAN MIT EINEM MONGOLEN
Bei schönem Wetter trafen sie sich jeden Vormittag gegen zehn zum Erfahrungsaustausch, ein Kern von sechs jungen Müttern, der an manchen Tagen auf zehn oder zwölf anwuchs, ihren Nachwuchs im Kinderwagen oder auch an der Hand. Die älteren Kinder spielten im Sandkasten oder turnten an Kletterringen gleich in der Nähe, während sich die Mütter unterhielten.
Schauplatz dieser Zusammenkünfte war der Tompkins Square Park, benannt nach Gouverneur Daniel Tompkins, der 1827 den Kampf gegen die Sklaverei im Staat New York angeführt hatte. Begrenzt wird der Park von den Avenues A und B im Westen und im Osten und von der Zehnten und der Siebten Straße im Norden und im Süden. Ein massiver schwarzer Schmiedeeisenzaun mit Eingängen an einigen der Straßenmündungen verleiht ihm eine gewisse Intimität. Auf der Seite der Avenue B in der Nähe der Neunten Straße gab es damals ein Fleckchen, so abgelegen, wie es eine solche Anlage nur zulässt, ohne dass man von den Bänken, auf denen sie die Köpfe zusammensteckten, den Blick auf den Spielplatz verlor.
Die Mehrheit der Frauen waren Schriftstellerinnen oder Künstlerinnen und eine wie die andere lebten sie mit Schriftstellern, Malern oder Musikern. Einige hatten ihre eigene Kunst auf Eis gelegt aus Rücksicht auf den Neid und die mangelnde Selbstsicherheit ihrer Partner. Nicht alle Frauen verfügten über dasselbe Maß an Energie, aber im Großen und Ganzen war eine wie die andere quicklebendig, idealistisch und voller Schwung. Der Slum hatte sie noch nicht aufgerieben und sie waren bereit, die Regeln zu lernen und falls nötig einige neue aufzustellen. Die meisten waren in der Tradition der Nachkriegsvierziger und der Fünfziger McCarthys erzogen und rebellierten dagegen, weigerten sich mit anderen Worten, farblos, blond und blind zu sein. Es war nicht einfach, in den Wirren sich jagender Veränderungen wirklich stimmig die Probleme der Befreiung zu formulieren, die erst fünf Jahre später voll und ganz erläutert waren. Aber sie hatten eine Nase dafür.
Die Ehen und Beziehungen dieser Frauen gingen regelmäßig in die Brüche, wenn auch wahrscheinlich nicht öfter als unter den Spießern, nur womöglich etwas lebhafter, da ihre Persönlichkeiten darauf programmiert waren, sich mit dem homo erectus beatnicus zu paaren. Ihre Ehegatten oder Liebhaber hielten es nämlich mit einer berauschenden Tradition: der Lebensweise nebst dem Wahnsinn von Schriftstellern und Künstlern wie Charlie Parker, Hemingway, Fitzgerald, Baudelaire, Nerval, Kerouac, Jackson Pollock, Modigliani, Hart Crane, Vachel Lindsay, Van Gogh ... Es gab da einen Berg von Irrsinn, und der wollte bestiegen sein!
Infolgedessen neigte ein gut Teil dieser Männer zur Egomanie, mit anderen Worten: zu Rücksichtslosigkeit, Obsessionen und Drogenmissbrauch; sie waren manisch-depressiv, despotisch, anmaßend und maßlos erotisiert, auf der anderen Seite jedoch unentschlossen und ohne Selbstvertrauen. Die meisten der Frauen im Park liebten ihre Kerle über alles, aber so schwache Menschen mit derartigen Fehlern zu lieben war alles andere als einfach, wo sie selbst schwach und fehlerhaft und beide Seiten in Verwirrung, Armut und widersprüchlichen Trieben gefangen waren. Einige der Frauen waren dem Abenteuer nicht abgeneigt, und als ihre Partner fremdgegangen waren, so erzählten sie den anderen, hatten sie es selbst versucht. Einige fanden Gefallen daran, andere nicht, wieder andere wussten nicht so recht.
Sie hatten nicht eigentlich einen Namen für ihre Gruppe, abgesehen von einem, der als Scherz zustande gekommen war. Marie Colson hatte von einem Streich erzählt, den ihr Gatte sich jüngst geleistet hatte, und mittendrin ausgerufen: »Es ist, als lebe man mit einem Mongolen!«
Als lebe man mit einem Mongolen — lachend schlug man sich auf die Schenkel. Von dem Tag an waren sie der Mongolenausschuss. Selbstredend, dass sich die Bemerkung auf die Mongolen des Dreizehnten Jahrhunderts bezog und nicht etwa auf die guten Leute der modernen Volksrepublik. Maries Gatte wurde der Archetyp. So stammte etwa die Technik des Mongolen beim Abwasch geradewegs aus dem Pleistozän. Spülmittel und Topfkratzer meidend, ging er mit den Fingernägeln zu Werke, kratzte und stocherte auf Spaghettihöcker in Töpfen ein wie ein Opossum, das sich durch eine Tür zu nagen versucht. Natürlich hatte diese Technik für ihn einen spirituellen Hintergrund; enthüllt hatte sie ihm — wie ein Zen-Koan — ein Typ, der als Beatnik-Tony bekannt war. Sie half dem Mongolen, die Oleophobie oder Angst vor dem haptischen Kontakt mit Speiseresten und öligen Oberflächen zu überwinden, die er aus dem Mittelwesten mitgebracht hatte.
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