Was Steven Spielberg in seinem eindrucksvollen Film Schindler’s List als Epilog in einem Friedhof in Israel zeigte, nämlich den Wechsel von den fiktiven Figuren zu den echten Überlebenden, hatte ich, als Epilog in meinem Film, bereits zwanzig Jahre früher vorweggenommen. In einer langsamen Überblendung verwandelte sich das Gesicht des Schauspielers Peter Bollag in das vierzig Jahre ältere Gesicht des authentischen David Frankfurter, der in den letzten Minuten des Films noch persönlich einiges über sein Leben und seine damalige Tat erzählte.
*
Jetzt saß ich in meinem Arbeitszimmer. Plötzlich wurde für mich die kleine automatische Pistole, mit welcher im Film Frankfurter Gustloff niedergestreckt hatte, zu einem Symbol für Unabhängigkeit und Freiheit oder, vielleicht besser, für Erlösung. Ich mußte sie nur mit scharfer Munition laden und die befand sich in einer Metallkassette. Durchziehen, an die Schläfe setzen und abdrücken. Linke oder rechte Schläfe? Ich hatte von Selbstmordkandidaten gelesen, die sich in die Schläfe geschossen und trotzdem überlebt hatten. Blind und hirngeschädigt für den Rest ihres Lebens. Wäre die Stirn sicherer? In der Mitte, zwischen die Augen, etwas oberhalb der Nasenwurzel. Ich wußte es nicht. Oder Herzschuß? Das mußte doch todsicher sein. Oder doch nicht? Was, wenn ich das Herz nicht treffen würde? Die Schmerzen, die Panik, die Angst und auch die Scham, wenn ich halbtot überleben würde, für immer gezeichnet, möglicherweise behindert, abhängig von fremder Hilfe, vielleicht sogar im Koma. Nur noch ein vegetierender Körper an Schläuchen. Jetzt vegetierte ich auch, aber ich konnte mich wenigstens bewegen und selbständig ernähren. War das schon der ganze Unterschied? Ich ließ schließlich die Pistole dort, wo ich sie seit eh und je versteckt hielt, ohne daß jemand davon wußte, zuhinterst im Wäscheschrank, unter Kissenbezügen, die nicht mehr gebraucht wurden.
Die makabren Phantasien ließen in ihrer Intensität keineswegs nach. Im Gegenteil, alle möglichen Arten eines ›unheimlich starken Abgangs‹ gingen mir täglich durch den Kopf. Die Pulsadern aufschneiden, vergiften, vergasen, aufhängen, ersäufen, Kurt nachahmen und vor den Zug springen. Und es gab noch eine Variante: mit dem Auto einen Unfall vortäuschen. Am besten eine Schnellstraße, ich würde den Wagen auf gut 140 km/h beschleunigen, im richtigen Moment ungebremst frontal in einen Baum rasen. Das würde mit Sicherheit tödlich sein und unter der Rubrik ›unerklärliche Verkehrsunfälle‹ irgendwann zu den Akten gelegt werden. Wie seinerzeit der erfolgreiche, landesweit beliebte Radrennfahrer Hugo Koblet, Idol meiner frühen Jugend, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere tödlich verunglückte, als er mit seinem Sportwagen in einen Baum raste. Gewollt, ungewollt? Das blieb für immer sein Geheimnis.
Dabei hatte es mich schon vor knapp einem Monat ungewollt beinahe erwischt. Ich hing zu Hause an einer Klimmstange, die in einem Türrahmen montiert war, mit den Knien eingehakt, Kopf nach unten. Eine Entspannungsübung, mit der ich seit vielen Jahren mein häusliches Turnprogramm abschloß. Ich hatte die Augen geschlossen und spürte das angenehme Pochen des Blutes in den Schläfen. Und dann, ich wußte nicht, wie mir geschah, stürzte ich im freien Fall zu Boden und schlug mit dem Gesicht ungebremst auf die hölzerne Türschwelle. Für wenige Sekunden mußte ich das Bewußtsein verloren haben. Als ich die Augen öffnete, meinte ich zuerst zu träumen. Ich lag nackt am Boden, in einer großen Blutlache. Voller Schrecken realisierte ich, daß ich alles andere als träumte. Die Stange hatte sich gelöst. Ich tastete in panischer Angst meinen Kopf ab und dachte an einen Schädelbruch. Der Kopf schien jedoch unverletzt zu sein. Aber woher kam diese Unmenge Blut? Ich griff zur Nase und merkte, daß dort nicht mehr alles so war, wie es hätte sein sollen. Langsam stand ich auf, wankte benommen ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. Der Nasenrücken war aufgeschlagen, ich sah einzelne Knochensplitter herausragen und das Blut lief unaufhörlich aus der klaffenden Wunde und den Nasenlöchern. Ich wurde ganz ruhig und merkte, daß ich erstaunlicherweise keine Schmerzen verspürte. Ich stopfte Watte in die Nasenlöcher, wusch mir das Blut vom Körper und fuhr mit einem Taxi in die Notfallklinik. Ein Arzt diagnostizierte eine massive Zertrümmerung des Nasenbeins, bei der auch die Schleimhäute in Mitleidenschaft gezogen worden waren, und meinte, das sei zweifellos ein Fall für die Wiederherstellungschirurgie. Inzwischen war Dominique eingetroffen, die ich, bevor ich in die Klinik gefahren war, angerufen hatte, um zu sagen, daß ich nicht zu unserem geplanten Treffen kommen könne, ich sei auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie saß neben der Liege und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. Am späten Nachmittag wurde ich unter Vollnarkose operiert. Als ich Stunden später erwachte, sah ich als erstes Dominique neben meinem Bett. Irgendwann hielt sie mir einen Spiegel vors Gesicht: Meine Nase war eingegipst, verpflastert und die Haut unter den Augen dunkelblau verfärbt. Ich sah aus wie das auferstandene Phantom der Oper. Fünf Tage später wurde ich entlassen. Helen, meine Cousine, holte mich ab und brachte mich nach Hause. Sie hatte für die nächsten Tage vorsorglich Essen eingekauft. Ich war froh, denn ich hatte absolut kein Bedürfnis, verunstaltet wie ich war, mich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Erst jetzt im nachhinein wurde mir die ganze Tragweite des Unfalls bewußt. Das war doch ganz offensichtlich ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen. Nach dem psychischen Absturz war ich auch noch physisch auf die Nase gefallen. Ich hätte mir genausogut das Genick brechen können. Das hätte auch nach einem gewöhnlichen Unfall, so wie ich ihn geplant hatte, ausgesehen. Was für ein Schutzengel hatte da die Hand im Spiel gehabt? Durfte ich ein zweites Mal das Schicksal herausfordern? Die zwei Wochen, in denen ich durch den Gips und die Pflaster verunstaltet in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, vergingen zwar schnell. Aber zu meiner negativen Stimmung gesellte sich jetzt noch die bange Frage, wie sehr sich wohl mein Aussehen durch die operierte Nase verändert haben würde.
Unvorhergesehene Begegnungen versuchte ich schon seit längerem zu vermeiden. Sah ich unterwegs einen Bekannten, dann wechselte ich die Straßenseite oder versteckte mich hinter einem Baum, einer Hausecke oder verschwand in einem Geschäft, auch wenn ich gar nicht die Absicht hatte, etwas zu kaufen. Ich wollte absolut keine Kommunikation. Sie war für mich jedesmal mühsam und peinvoll. Antwortete ich auf die Frage nach meinem Befinden mit »nicht gut« oder gar mit »schlecht«, hatte das logischerweise weitere Fragen und schließlich gutgemeinte Ratschläge zur Folge, und das war mir unerträglich. Gleichzeitig wollte ich nicht abweisend oder unfreundlich sein. Die einen zeigten sich besorgt, versprachen anzurufen, und ich hoffte insgeheim, sie würden es nicht tun. Andere nahmen mir das Versprechen ab, mich bei ihnen zu melden, und ich wußte im selben Moment, daß ich ihren Wunsch nicht erfüllen würde. In der Zeit mit der Gipsmaske verkraftete ich darum paradoxerweise eine Begegnung leichter, denn die Unterhaltung drehte sich nur um mein sichtbares Problem, um Unfallhergang und Operation. Gutgemeinte Ratschläge waren unnötig, die Nase würde ja automatisch heilen, es war nur eine Frage der Zeit. Verletzungen am Körper sind sichtbar, greifbar, meßbar und damit erkenn- und behandelbar. Aber eine verletzte Seele? Es gab Momente, da hatte ich den absurden Wunsch, nur noch Körper zu sein, losgelöst von Geist und Seele, die mir eine unerträglich gewordene Realität vermittelten. Losgelöst von dem, was mich beinahe um den Verstand brachte, dem Wahrnehmen einer Umgebung, an der ich nicht teilnehmen konnte. Da war es doch besser, das Denken gleich abzuschalten, die Seele außer Betrieb zu setzen und den Körper seinem Schicksal zu überlassen. Vegetieren ohne Bewußtsein, warum nicht? Das konnte doch nicht schlimmer sein als das, was ich jetzt erlebte. Und mein Gedächtnis? Hätte ich dann überhaupt noch eines? Es ließ mich jetzt schon beinahe vollumfänglich im Stich. Nein, es war absurd, sich Unmögliches herbeizuwünschen. Ich konnte weder aus meiner Haut noch aus meinem Geist und schon gar nicht aus meiner Seele. Ich konnte mich nicht wegdividieren. Ich war ich, und was immer geschehen würde, ich mußte es durchstehen, durchleben. Ich mußte? Ja, ich mußte, solange in mir auch nur der kleinste Funke von Lebenswille glimmte. Die Alternative war, Maßnahmen zur endgültigen Verabschiedung zu treffen und dementsprechend zu handeln. Es war die einzige Alternative. Es gab nur entweder oder, und nichts dazwischen.
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