Was hat damals die kulturelle Umwelt so verändert, fragt Smail, dass sich das menschliche Gehirn darauf einstellen musste und deshalb auch die Verhaltenssteuerung durch das Gehirn sich gewandelt habe? Möglich sei dies nur, so sucht er eine neuropsychologische Erkenntnis geschichtswissenschaftlich nutzbar zu machen, wenn starke Emotionen auf den Menschen einwirken und sein Gehirn modifizieren. 26Genau dies sei im 18. Jahrhundert geschehen und habe sich im neunzehnten verstärkt fortgesetzt. Denn der Konsummarkt habe nun verhaltensändernde, Emotionen auslösende Produkte massenweise verfügbar gemacht: Kaffee, Tee, Schokolade, Tabak, Zucker, Alkohol, auch härtere Drogen, schließlich die Leserevolution und anderes mehr. Smail argumentiert, diese Kumulation von verhaltensmodifizierenden Produkten habe die kulturelle Umwelt so verändert, dass sich auch das menschliche Gehirn geändert habe.
Smail entwirft also die Neurohistorie als einen Wissenschaftszweig, der neue Sehepunkte ergänzend in die Geschichtswissenschaft einführt, um alte Fragen neu zu beantworten, ohne jedoch neue Untersuchungsverfahren einzuführen oder neue Quellen zu erschließen. Es geht um die Neudeutung bekannter historischer Tatbestände, indem neurowissenschaftliche Befunde zu Rate gezogen werden, ohne das Handeln von Menschen, die in der Vergangenheit gelebt haben, direkt neuropsychologisch untersuchen zu können. So muss es bei Analogieschlüssen von neurologischen Forschungsergebnissen auf geschichtliche Ereignisse und das Handeln längst verstorbener Akteure bleiben. So verfahren auch Neurowissenschaftler, wenn sie gemeinsam mit Geisteswissenschaftlern über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns nachdenken und dafür nach Beispielen in der Lebenswelt des Menschen suchen. 27Smail beansprucht aber mit seiner Neurohistorie darüber hinaus, den Neurowissenschaftlern zu zeigen, warum sich das menschliche Gehirn im Laufe der Geschichte unter dem Einfluss kultureller Umwelt verändert habe. Seine Konzeption einer Neurohistorie richtet sich also an beide Wissenschaften, die Geschichts- und die Neurowissenschaft, indem er historische Befunde neurowissenschaftlich reinterpretiert.
Johannes Fried verfährt ganz anders. Er hat sein Programm zunächst 1998 in einem Vortrag über The Veil of Memory am Deutschen Historischen Institut in London und dann 2003 in einer Publikation der Mainzer Akademie der Wissenschaften mit sehr pointierten Formulierungen skizziert: Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik . Ausgebaut hat er sein Plädoyer für eine „neurokulturelle Geschichtswissenschaft“ in seinem 2004 erschienenen Buch, das den englischen Titel des Vortrags aufnimmt: Der Schleier der Erinnerung . In diesem Werk fordert er eine neurowissenschaftlich fundierte „historische Memorik“. Es ist der außerordentlich anspruchsvolle Versuch, das eigene Fach und generell die Möglichkeit, Vergangenheit zu erkennen, auf eine neue Grundlage zu stellen. Einem solchen Versuch gebührt Respekt und Anerkennung. In der Wissenschaft wird dies durch Kritik bezeugt. Deshalb werden wir uns nun im ersten Schritt mit Frieds Entwurf einer neurokulturellen Geschichtswissenschaft theoretisch auseinandersetzen.
Das Ergebnis mag verblüffen. Der Abgleich seiner Aussagen über den heutigen Zustand der Geschichtswissenschaft und über die Konturen einer künftigen neurokulturellen Historie mit den theoretischen Grundlagen, auf denen wir die Geschichtswissenschaft arbeiten sehen, führt zu dem Schluss, dass Fried und wir offensichtlich ganz unterschiedliche Geschichtswissenschaften vor Augen haben. Da wir zudem die Ergebnisse der Neurowissenschaft anders bewerten als er, kommen wir zu konträren Einschätzungen, was die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Gedächtnisquellen bedeutet. Oder bedeuten könnte, wenn man sich in beiden Fächern einem Gespräch öffnete, um methodisch kontrollierte Grenzüberschreitungen zu wagen.
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