Übergang
aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter verkündete, bezog er in diesem interessenpolitischen Wettstreit entschieden Stellung. Erst im „naturwissenschaftlichen Zeitalter“, also in seiner Gegenwart, sei das „alte Wort Baco’s von Verulam eine Wahrheit geworden: Scientia est potentia“ 4. Mit dem überlegenen Fortschrittsdienst der Naturwissenschaften an der Gesellschaft begründete er deren Dominanzanspruch. Das war gängige Argumentation damals. Die Naturwissenschaft als die neue Leitwissenschaft, und nicht mehr die Philosophie, mit Auswirkungen bis ins Gymnasium. “Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!“ lautete der Kampfruf zur Gymnasialreform, den du Bois-Reymond ausgab, um eine starke öffentliche Resonanz zu provozieren. 5Das gelang ihm. Er wurde einer der medial bekanntesten deutschen Professoren seiner Zeit, ein
public intellectual mit internationaler Ausstrahlung, weil er immer wieder in Fragen eingriff, die in der Öffentlichkeit debattiert wurden, aber jenseits seines Fachgebietes lagen. Da er dies meist auf wissenschaftlichen Bühnen tat, wie der preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, beanspruchte er für seine fachfernen gesellschaftspolitischen Interventionen wissenschaftliche Kompetenz und die Autorität des Experten. 6
Die Forderung nach einer neuen Relevanzhierarchie unter den Wissenschaften, die sich auch in der Konkurrenz um finanzielle Mittel niederschlug, ist die Brücke zum zweiten Forum, auf dem die Debatte ausgetragen wurde, dem wissenschaftlichen. Denn Naturwissenschaftler wie Rudolf Virchow, Emil du Bois-Reymond oder Justus Liebig, um nur drei zu nennen, die mit ihrer Botschaft immer wieder in die Öffentlichkeit gingen – sie alle definierten die moderne Naturwissenschaft auch methodisch als die Leitwissenschaft der Gegenwart. In den Worten du Bois-Reymonds aus einer Berliner Akademie-Rede im Jahr 1872: die Philosophie könne „Vorteil aus der naturwissenschaftlichen Methode ziehen […], nicht aber umgekehrt die Naturforschung aus der Methode der Philosophie.“ 7
Dieser Streit mündete in die höchst fruchtbare wissenschaftstheoretische Debatte über Kultur- bzw. Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft (Heinrich Rickert und Wilhelm Dilthey) oder nomothetische und idiographische Wissenschaften (Wilhelm Windelband). Auch Max Webers grundlegende Schriften zur Logik der Kulturwissenschaften gehören hierher. Naturwissenschaftler haben diese wissenschaftstheoretische Debatte mit ihrem Ressortimperialismus provoziert oder zumindest angestoßen und befeuert, Philosophen und Sozialwissenschaftler haben sie geführt. Mit Ergebnissen, die noch heute gültig sind.
Weiterhin gültig sind auch Einwände pragmatischer Art, die in diesen Theorie-Debatten meist nicht vorgebracht wurden. Warum sollte der Wert der „Weltbesiegerin unserer Tage“, wie du Bois-Reymond die Naturwissenschaft nannte 8, in ihren konkreten Untersuchungsgebieten für die Gesellschaft bedeutsamer sein als die Forschungsergebnisse von Geistes- und Sozialwissenschaftlern? Wenn zum Beispiel Parteiensysteme international verglichen werden oder das städtische Wahlverhalten erhoben und daraus die spezifische Anfälligkeit von Sozialgruppen für den Nationalsozialismus abgeleitet wird, so ist das für die Gesellschaft nicht minder bedeutsam als die experimentelle Lokalisation einer Hirnregion für die politische Ausrichtung mit Hilfe der Kernspintomographie.
Historiker waren an diesen Hierarchiedebatten in den Wissenschaften kaum beteiligt, wenngleich damals auch in der Geschichtswissenschaft über eine neue oder erweiterte kulturgeschichtliche Grundlegung des Faches gestritten wurde 9und der Fehdehandschuh der Naturwissenschaftler auch auf dem fachlichen Territorium der Historiker lag. Du Bois-Reymond hatte nämlich die grundsätzliche methodische Überlegenheit der Naturwissenschaft, von der er überzeugt war, auch auf die Geschichtsforschung übertragen. Aus der bisherigen akademischen Geschichtswissenschaft könne man nur „lerne[n], dass man aus ihr nichts lernt“ 10. Er forderte stattdessen eine universale „Kulturgeschichte“ auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Nur sie sei in der Lage, den Fortschrittsweg der Menschheit nachzuvollziehen und in die Zukunft zu öffnen.
Die Auflösung des Topos Historia Magistra Vitae , wie sie Reinhart Koselleck für das moderne Geschichtsdenken seit der Zeit um 1800 analysiert hat – gemeint ist nicht, dass man aus der Geschichte nichts lernt, weil sich kein Ereignis wiederhole, sondern dass sie „Möglichkeitsspielräume von Ereignissen“ erkennen hilft 11–, wird von diesen geschichtsschreibenden Naturwissenschaftlern nicht nachvollzogen, sondern auf die herkömmliche politische Geschichte begrenzt. Ausgerechnet du Bois-Reymond, Inbegriff des deutschen Bildungsbürgers, nannte sie abfällig die bürgerliche Geschichtsschreibung. Eine Geschichtsbetrachtung auf den Spuren der Siegesgeschichte der Naturwissenschaft hingegen sei lehrhaft, weil sie die Grundlage der Moderne enthülle – die „naturwissenschaftliche Denkweise“. In ihr verortete er den „Kausalitätstrieb“ des modernen Menschen, der naturwissenschaftlich konditioniert die Geschichte unaufhaltsam auf Fortschritt ausgerichtet habe. „Wir sagen, Naturwissenschaft ist das absolute Organ der Kultur, und die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit.“ 12
Du Bois-Reymond versuchte sich auch darin, eine solche neue Form von Geschichtsschreibung zu erproben, und dies nicht nur, wie es Justus Liebig in einigen Münchner Akademiereden tat 13, entlang der Wissenschaftsgeschichte, sondern auf einem viel beackerten Gebiet der Kultur- und Politikgeschichte: Über das Nationalgefühl , so der Titel seiner Studie. Sie ist darwinistisch-evolutionär angelegt wie generell sein Geschichtsdenken. 14Eine Geschichtsschreibung auf der theoretischen Höhe der Zeit müsse auf Darwin gründen. Dessen Deszendenztheorie habe das gesamte „Gebiet des Lebens“ zu „einem Bilde zusammengefaßt“, so dass nun eine Entwicklungsgeschichte zur Verfügung stehe, die Astronomie, Paläontologie und Geologie mit Anthropologie und Ethnographie verbinde, die ihrerseits „den Übergang vermitteln zur Linguistik, der Erkenntnistheorie und den historischen Wissenschaften“ 15.
Zwischen dem, was hier für das ausgehende 19. Jahrhundert in wenigen Strichen skizziert wurde, und der heutigen Debatte um die Rolle der Neurowissenschaft in der Gesellschaft und in der Wissenschaft sind zwei Parallelen zu erkennen:
1. Es geht stets – mit allen Weiterungen, die daran hängen – um gesellschaftspolitische Relevanzhierarchien auf dem Wissenschaftsmarkt und um kulturelle Hegemonie. Wenn Neurowissenschaftler erklären, warum das Gehirn, wie sie es erforschen, keinen Raum für die Annahme eines freien Willens böte und daraus Folgerungen für das Strafrecht oder für die angemessene Art von Stadtentwicklung ableiten 16, so drückt sich darin ein gesellschaftlicher Prioritätsanspruch aus, wie er im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Ausrufung des naturwissenschaftlichen Zeitalters verbunden gewesen war. Max Weber hatte diese Art von Wissenschaftsimperialismus an der Energetik-Lehre des Chemiker-Philosophen Wilhelm Ostwald – 1909 erhielt der Vielgeehrte den Nobelpreis für Chemie – sarkastisch kritisiert. Es würden „Wechselbälge gezeugt“, wenn nicht beachtet werde, dass unterschiedliche Disziplinen aus guten Gründen unterschiedliche Methoden anwenden und in unterschiedlichen Perspektiven ihr Untersuchungsobjekt betrachten. 17
2. Damals wie heute bleibt in der innerwissenschaftlichen Debatte die Geschichte in doppelter Weise peripher: Historiker mischen sich in die Methodendebatte der anderen nur selten ein, und die anderen beachten nur selten historische Themen. Warum?
Im ausgehenden 19. Jahrhundert blieb der Übergriff von Naturwissenschaftlern wie du Bois-Reymond oder Liebig in die etablierte akademische Geschichtswissenschaft folgenlos, weil sie entweder die Geschichte auf Wissenschaftsgeschichte reduzierten – vornehmlich naturwissenschaftliche – oder Evolutionsgeschichte betrieben. Beides sind inzwischen etablierte Disziplinen. Sie stehen nicht in Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft in ihren lang-etablierten Hauptgebieten.
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