Während Naturwissenschaftler wie du Bois-Reymond und Liebig keine Scheu hatten, als Laien-Historiographen den professionellen Historikern zu zeigen, wie man Geschichte als lehrhaft in den Dienst der Gesellschaft stellen könne, ist das heute nicht mehr der Fall. Oder doch nur sehr selten. Wolf Singer hat es getan, als er eingeladen war, auf dem deutschen Historikertag des Jahres 2000 den Eröffnungsvortrag zu halten: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft . 18Johannes Fried war damals Vorsitzender des Historikerverbands. Er hat durch zwei sehr pointierte Schriften versucht, seinen Fachkollegen nahezubringen, warum sie ihr Fach methodisch auf neurowissenschaftlicher Grundlage neu erfinden müssten. 19
In der medialen Öffentlichkeit hat Fried mit seinem Appell zur neurokulturellen Bekehrung viel Resonanz gefunden, in der Geschichtswissenschaft wenig. Ein Historiker hat auf drei Seiten repliziert, warum er vom „neuronal turn“ in der Historiographie nichts hält, ein anderer hat die positivistische Absicht Frieds (dazu gleich noch) für unerheblich erklärt 20, und gemeinsam haben wir (Birbaumer/Langewiesche 2006) in einem Aufsatz über Posttraumatische Belastungsstörung und Soziopathie in Österreich uns gegen Frieds Vision gewandt. 21Diese Argumentation wird nun aufgenommen und weitergeführt, vor allem mit Blick auf die Frage, was bietet die Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft an neuen Einsichten zu Fragen von Gedächtnis, Erinnern und Wahrnehmen. Gibt es Möglichkeiten zur Kooperation? Hier fließen eigene Erfahrungen aus dem Tübinger Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen ein. 22
Als erstes gilt es festhalten, worüber wir nicht schreiben werden. Dann wird Johannes Frieds Vision einer gänzlich erneuerten Geschichtswissenschaft auf neurowissenschaftlicher Grundlage vorgestellt und mit einer bescheideneren Form von Neurohistorie verglichen. In einem dritten Schritt wird erläutert, wie die Aussagen und Hypothesen von Neurowissenschaftlern über das menschliche Gedächtnis und sein Wahrnehmen und Erinnern mit Blick auf die bisherigen Annahmen und Theorien innerhalb der Geschichtswissenschaft unseres Ermessens zu bewerten sind. Bringen sie neue Einsichten? Und schließlich soll gefragt werden, welche Möglichkeiten zur konkreten Forschungskooperation zwischen Historikern und Neurowissenschaftlern bestehen – jenseits der Methodendiskussion, die nun zunächst in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern bezogen auf empirische Forschungen im historischen Feld.
Wovon diese Studie nicht handelt
Es geht nicht um das, was in der Debatte zwischen Geistes- und Neurowissenschaftlern im Zentrum steht: das Problem der Willensfreiheit. Der Grund dafür ist einfach. Historiker begegnen in ihren Quellen stets gesellschaftlich konditionierten Menschen. Konditioniert sind sie jederzeit in unterschiedlichsten Zusammenhängen: religiösen bzw. weltanschaulichen, politischen und sozialstrukturellen; nach Geschlecht; konditioniert wird auch durch die Art des Berufes und die Berufsposition, durch den Bildungsgrad und den kulturellen Raum, in dem jemand lebt, durch die Werteordnung, die in der Gesellschaft oder in gesellschaftlichen Gruppen vorherrscht, durch die Art der Staatsorganisation, und vieles mehr. All dies war und ist unterschiedlich bedeutsam in den verschiedenen Handlungsfeldern, und alle diese Konditionierungsagenturen wandeln sich im Laufe der Geschichte – in sich und in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Ihre Bedeutung für die Menschen, ihre Prägekraft ändert sich manchmal still, manchmal eruptiv bis hin zu gewaltsamen Revolutionen. Stets geht es in solchen Veränderungen um die Institutionalisierung von Wertvorstellungen. Darauf zielen alle, die in der Gesellschaft etwas bewirken und diese Wirkung auf Dauer stellen wollen. Institutionalisierung meint Verstetigung von Handlungsmaximen. 23
Wer das menschliche Handeln in konkreten gesellschaftlichen Situationen untersucht, betrachtet den Menschen immer unter Bedingungen, die dieser zwar gestalten kann und will, aber doch begrenzt von einer Fülle struktureller Konditionierungen, die der Einzelne zu beachten hat, wenn er als soziales Wesen handeln will. Diese Bedingungen in ihrem historischen Wandel zu analysieren und aus ihnen die Handlungen und die Handlungsmöglichkeiten der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit zu erkennen, ist das Geschäft der historischen Fächer. Es geht stets um das Verhalten von Menschen in einem gesellschaftlichen Raum, der in vielfältiger Weise den Menschen konditioniert. Anders formuliert: es geht um die Zurechenbarkeit von menschlichem Handeln und den Entwicklungen, die aus ihm folgen, auf jene Strukturen, die als handlungsbestimmend angesehen werden.
Neurowissenschaftliche Konditionierungen von menschlichem Verhalten in geistes- und sozialwissenschaftlichen Analysen einzubeziehen, ist eine Herausforderung, der sich diese Fächer nicht entziehen sollten. Dabei dürfte es angebracht sein, von der Hypothese auszugehen, dass in Forschungen, die nach menschlichem Verhalten in komplexen gesellschaftlichen Situationen fragen, neurowissenschaftliche Prägungen in das weite Feld der Konditionierungen menschlichen Verhaltens einzuordnen sind, ihre Erklärungskraft also situativ bestimmt werden muss, nicht aber, dass neurowissenschaftliche Prägungen allen gesellschaftlichen übergeordnet sind. Zu bedenken ist auch, dass die Neurowissenschaft und generell die biologischen Fächer sich außerordentlich dynamisch entwickeln. Es ist deshalb für Außenstehende nicht einfach zu erkennen, wo sie andocken könnten und wo sich die Naturwissenschaftler selber nicht sicher sind. Die Probleme, die damit verbunden sind, wurden kürzlich in einem interdisziplinären Gespräch erörtert, das die Zeitschrift American Historical Review initiiert und dokumentiert hat. 24
Zwei gegensätzliche Ansätze zu einer Neurohistorie
Der Frankfurter Mediävist Johannes Fried und der Harvard-Historiker Daniel Lord Smail, ebenfalls Mediävist, Experte für den Mittelmeerraum, haben jüngst dafür plädiert, die Geschichtswissenschaft neurohistorisch zu erneuern bzw. zu ergänzen. 25Während Fried eine „neurokulturelle Geschichtswissenschaft“ entwirft, die methodologisch radikal mit der bisherigen Geschichtswissenschaft bricht, setzt Smail zwar ebenfalls hohe Erwartungen in eine neurowissenschaftlich informierte Geschichtswissenschaft, doch er will sie nicht der Neurowissenschaft methodisch ausliefern. Er fordert vielmehr wechselseitiges Lernen voneinander. Smail geht nämlich wie ein Teil der Neurowissenschaft davon aus, dass das menschliche Gehirn kulturell formbar sei, also eine Geschichte habe. Auf eine rigoros vereinfachende Formel gebracht: Das menschliche Gehirn steuere zwar seit den Anfängen der Menschheit, vom Menschen unbemerkt, das menschliche Verhalten, doch die kulturelle Umwelt, also das was Menschen tun, verändere das menschliche Gehirn. Smail versucht, diese Umwelteingriffe ins menschliche Gehirn am langen 18. Jahrhundert zu zeigen, das er bis 1820 reichen lässt.
Dieser Versuch, eine begrenzte historische Zeitphase neurowissenschaftlich zu betrachten, ist ungewöhnlich, denn in aller Regel bevorzugt die Neurohistorie „deep“ oder „big history“, d.h. Analysen über lange Zeiträume hinweg, möglichst bis in prähistorische Zeiten ohne schriftliche Überlieferung. Vor ihr nimmt sich selbst die Weltgeschichte einiger Jahrhunderte wie Geschichtsschreibung in der Nussschale aus. Auch bei Smail verbindet sich mit der Neurohistorie ein Appell an die Geschichtswissenschaft, sich nicht mit der kurzen Phase von Schriftlichkeit zu begnügen. Er will mit seinem Buch für ein Fach Geschichte werben, dessen Forschungsbereich zeitlich im prähistorischen Afrika beginnt. „This is our Eden.“ (9) Doch er verharrt nicht auf einer historiographischen „reunion“ zwischen „the Paleolithic past and the Postlithic present“ (6), sondern versucht, neurowissenschaftliche Erkenntnis für die Analyse des 18. Jahrhunderts fruchtbar zu machen und so in eine unmittelbare Deutungskonkurrenz mit der herkömmlichen Geschichtswissenschaft, die er selber auch weiterhin pflegt, zu treten.
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