Aber wie frustriert wäre der junge Julian Barnes gewesen, wenn er den Nimbus gekannt hätte, der diesen Roman umgab, und dann eine getreue Übersetzung in der elterlichen Bibliothek entdeckt hätte. Den Ruf einer heißen Wichsvorlage hatten Schlegels »Lucinde« nur die übelwollenden Kritiker eingetragen. So erging es 1857 auch Gustave Flauberts skandalumwittertem Roman »Madame Bovary«: »Ich werde der Löwe der Woche werden«, stellte Flaubert damals fest, »alle Weibsbilder von Rang reißen sich die ›Bovary‹ aus den Händen, um Obszönitäten darin zu suchen, die sie nicht enthält.«
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1809 rief Heinrich von Kleist in seiner Ode »Germania an ihre Kinder« zum Vernichtungskrieg gegen die Franzosen auf:
Alle Plätze, Trift’ und Stätten
Färbt mit ihren Knochen weiß;
Welchen Rab und Fuchs verschmähten,
Gebet ihn den Fischen preis;
Dämmt den Rhein mit ihren Leichen;
Laßt, gestäuft von ihrem Bein,
Schäumend um die Pfalz ihn weichen,
Und ihn dann die Grenze sein!
Denn das Weltgericht frage nicht nach den Gründen. In diesen »alle Menschlichkeit schändenden Versen«, schrieb Kurt Eisner 1911, werde der Haß »zur Besessenheit eines Irren«, aber keiner der Herausgeber von Kleists Werken kam auf die Idee, die Ode zu unterdrücken. Goethes »Schnuckfötzgen« und Schlegels »Feuer der edelsten Lebenskraft« wirkten anstößiger als Kleists Gewaltphantasie, und so ist es geblieben. 1993 wurde Martin Shafer, ein Manager der Filmproduktionsgesellschaft Castle Rock Entertainment, in der New York Times mit den Worten zitiert: »Wenn in einem Film ein Mann die Brust einer Frau berührt, dann läuft der Film ab 17 Jahren, aber wenn ein Mann ein Körperteil mit einer Kettensäge abtrennt, wird der Film ab 12 freigegeben.«
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Nach judenfeindlichen Ausschreitungen, die mehrere Menschenleben gekostet hatten, flohen im August 1819 rund vierhundert Juden aus Würzburg. Wenig später wurde im Haus eines Bayreuther Juden ein anonymer Drohbrief hinterlegt, der an die »Judenschaft in Baireuth« gerichtet war:
Ihr von Gottes Gnaden in unser Stadt geduldetes Lumpenpak, euch machen wir kund und zu wissen, daß Ihr das nämliche Schicksal in einer kurzen Zeit zu erwarten habt, als wie euere Brüder in Würzburg. Fort müßt Ihr und wenn die Stadt zu Grund geht; warum sollen wir eine solche Viperbrut in unserer Mitte gedulden, die nur von unsern Schweiß und Blut leben. Ein jeder Christ muß euch verachten, indem ihr vor 1000 Jahren den Lehrer unserer Religion am Kreuz gemordet habt. Euer ganzes niedriges Betragen, erweckt in uns schon den größten Haß; um uns aber ganz mit der Rache zu sättigen, ist euer Loos Verbannung!, denn mit euerm Tod ist uns nichts geholfen, sondern wenn wir euch zu tausenden wandern sehen, so ist es für uns ein Labsal.
Das waren keine leeren Drohungen. 1993 hat der Historiker Stefan Rohrbacher in seiner Studie »Gewalt im Biedermeier« die Ausbrüche judenfeindlicher Gewalt verzeichnet, die sich zwischen 1815 und 1849 in ganz Deutschland zutrugen, von Friedhofsschändungen bis hin zu Pogromen. Der Pöbel brach in Wohnungen ein, zerschlug das Mobiliar, schlitzte Federbetten und Mehlsäcke auf und leerte sie aus den Fenstern, haute mit Beilen Türen und Fensterläden ein, demolierte Synagogen, zerriß Gebetsbücher, zerstörte die Leuchter und beging Morde. In Viernheim mußte 1830 eine ganze Kompanie Soldaten gerufen werden, um den Mob zu bändigen. Es gebe »deutliche Anzeichen dafür«, schreibt Rohrbacher, »daß Exzesse, die sich ausschließlich gegen Juden richteten, von den Behörden tendenziell für minder schwerwiegend angesehen wurden; und selbst Gewalttätigkeiten gegen Juden wurden in amtlichen Berichten häufig als ›Neckereien‹ charakterisiert«.
Der Gewalt gegen die Juden ging stets ihre Schmähung voraus. »In ihrer Schamlosigkeit übertreffen sie sogar Schweine und Ziegen«, erklärte der Kirchenvater Johannes Chrysostomos im vierten Jahrhundert. Sie seien »voller Trunkenheit und Fettleibigkeit«, nähmen das Joch Christi nicht und zögen nicht den Pflug der Lehre: »Solche Tiere aber, die zur Arbeit unnütz sind, sind reif zur Schlachtung. So geht es auch ihnen: Sie haben sich für die Arbeit als unnütz erwiesen und sind deshalb reif zur Schlachtung geworden.« Für den heiligen Bischof Hilarius von Poitiers waren die Juden »ein Schlangengezücht und Knechte der Sünde«, der syrische Kirchenvater Ephräm ereiferte sich über den »Gestank der stinkenden Juden«, Augustinus nannte sie »eine triefäugige Schar« und »aufgerührten Schmutz«, und Papst Leo der Große, der von 440 bis 461 amtierte, verdammte »die fleischlich gesinnten Juden« als Frevler, Gottlose und »brüllende Raubtiere«.
Jahrhundertelang wurde der Vorwurf wiederholt, daß die Juden unrein, teuflisch oder tierisch seien. »Ich weiß wirklich nicht ob der Jude ein Mensch ist, weil er weder der menschlichen Vernunft weicht noch sich mit der göttlichen oder eigenen Satzungen zufrieden gibt«, stellte im zwölften Jahrhundert Petrus Venerabilis fest, der Großabt von Cluny. Wenn die Juden aber nicht als Menschen galten, war es kein Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe, sie zu demütigen, zu berauben, zu vertreiben, zu ermorden oder wenigstens davon zu phantasieren, so wie der Verfasser des Frankfurter Passionsspiels, der in der Mitte des 14. Jahrhunderts dem König Herodes die Worte in den Mund legte: »man sulle die Judden alle hencken! / sie haben mir gethan vil vertrieß, / darumb ich sie todten ließ«. Noch ärger zog der Meistersinger Hans Folz im späten 15. Jahrhundert in seinen heiteren Fastnachtsspielen über die Juden her: »Die kinder gotes das sint doch wir, / Die giftigen würm das seit ir«, reimte er und bezeichnete sie als »unzifer« und »pluthunt«. In seinem Stück »Ein spil von dem herzogen in Burgund« ließ er eine ganze Reihe von Figuren Gericht über die Juden halten und die bestmöglichen Strafen erwägen. Ein Ritter schlägt vor, die Juden nackt auszuziehen und auf ihre Mutter zu binden, und ein anderer Ritter greift diesen Vorschlag auf – man solle sie nackt in eine Latrine setzen, einen Tag lang auf sie defäkieren und sie dann zufrieren lassen:
Ich urtail, das man sie alle jar
Ganz ploß und nacket ziehe auß,
Setz ieden unter ein scheißhaus
Und ließ ein Tag auf sie schmaliern
Und darnach gar rein uberfriren.
Diese Sülze fräße der Teufel gern, sagt daraufhin eine Närrin. Es folgt der Vorschlag, den Inhalt der Latrine in einen Schweinetrog zu füllen und von den Juden verzehren zu lassen (»Maul auf, lecker! Sprich: Mum mum!«), und ein weiterer Ritter entwickelt den Plan, die Juden an den Zitzen einer Sau saugen zu lassen und den Kot der Sau verschlingen zu lassen.
Damit hatte Hans Folz alles bisher Dagewesene an Dreckigkeit überboten. Wenn der Begriff des Schweinischen jemals etwas gedeckt hat, dann hier. Erst Martin Luther gelang es, diesen Versen etwas Ebenbürtiges an die Seite zu stellen. In seiner Hetzschrift »Von den Jüden und jren Lügen« zog er 1543 gegen die »verdampten Jüden« zu Felde und riet ihnen, die Exkremente von Schweinen zu schlucken: »Seid jr doch nicht werd. das jr die Biblia von aussen sollet ansehen. schweige, das ir darinnen lesen sollet. Jr soltet allein die Biblia lesen, die der Saw unter dem Schwantz stehet, und die buchstaben, so da selbs herausfallen, fressen und sauffen.«
Es ist keine Entschuldigung, daß er an Hämorrhoiden, Nierensteinen, Blutstuhl und Durchfall litt. Ein Mann von Luthers geistigen Kapazitäten hätte es sich nicht erlauben dürfen, seine Wut, auf wen auch immer, im Stil eines besoffenen Schweinehirten zu artikulieren und das Gepolter auch noch in Druck zu geben. Doch das hat er getan, und er hat die gesamte Christenheit zum Haß aufgestachelt:
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