Angela M.T. Reinders
Unser Kind soll etwas werden
Herausgegeben von Hubertus Brantzen
Noch vor wenigen Jahren galt sie als Auslaufmodell, jetzt ist Familie wieder „in“. Dabei zeigt sie sich heute vielfältig: Neben traditionellem Eltern-Kind-Modell stehen alternative Formen, zu denen Alleinerziehende, aber auch Patchwork- und zunehmend wieder Mehr-Generationen-Familien gehören.
Heute sieht sich Familie – bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel – vor neue Herausforderungen gestellt. Die Reihe „Familie ist lebenswert“ behandelt alle die Themen, die für die jeweilige Lebenssituation wichtig sind.
Professor Dr. Hubertus Brantzen hat als Theologe und Pädagoge verschiedene Werke zu Fragen der Pädagogik und Spiritualität veröffentlicht. Er ist verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und vier Enkel und lebt in Mainz.
Weitere Titel der Reihe „Familie ist lebenswert“:
Hubertus Brantzen: So gelingt Erziehung.
ISBN 978-3-7666-1226-7
Jürgen Holtkamp: Kinder, Computer & Co.
ISBN 978-3-7666-1481-0
Michael Behrent: Kinder haben Vorfahrt.
ISBN 978-3-7666-1477-3
Frauke Schwaiblmair: Mit dem Baby durch das erste Jahr.
ISBN 978-3-7666-1476-6
Peter Neysters: Gut, dass es Oma und Opa gibt.
ISBN 978-3-7666-1474-2
Die Reihe wird fortgesetzt.
Angela M.T. Reinders
Unser Kind soll etwas werden
Butzon & Bercker
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
ISBN 978-3-7666-4158-8
© 2011 Butzon & Bercker GmbH, 47623 Kevelaer, Deutschland
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfoto: Temych – Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern
E-Book-Umsetzung: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld
Der Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen erzählt in seinem Buch „Glück kommt selten allein …“ folgenden Witz.
Gefragt nach dem Alter der Söhne, antwortet eine Mutter: „Der Arzt wird jetzt drei und der Jurist geht schon in die erste Klasse.“
Der Witz karikiert, wie nah der berechtigte Wunsch von Eltern, dass aus den Kindern etwas Gutes werden soll, und die bedrückende Erwartungshaltung an die Kinder, von Anfang an nur die höchsten Ziele ins Auge zu fassen, beieinanderliegen.
Bildung kann ein Schlüssel zu gutem Einkommen und gesellschaftlichem Anschluss sein. Bildung ist aber mehr als nur die Eintrittskarte zu einem möglichst sorgenfreien Leben. „In der Wissensgesellschaft bestimmt Bildung den Lebenslauf stärker, als dies je zuvor der Fall war“, formuliert der Bildungsforscher Jürgen Baumert. Schlüsselpersonen bei dieser Prägung des Lebenslaufes sind zuallererst die Eltern.
Dieses Buch möchte Eltern dabei unterstützen, mit der eigenen Erziehung das richtige Fundament für den Bildungsweg ihrer Kinder zu legen, aber sich gleichzeitig nicht von einer Hysterie des „Bildungswettlaufes“ anstecken zu lassen.
Angela M.T. Reinders
1.
Kinder dürfen werden, wie sie sind
Vom Großziehen und Wachsenlassen
Wie Kinder lernen können, eigene Erfahrungen zu machen
Menschenrecht und Elternpflicht
Von Gott und der Welt wissen
Wenn ich groß bin …
Fundgrube
Vom Großziehen und Wachsenlassen
„Kinder soll man nicht erziehen, sondern einfach wachsen lassen“, fasste der amerikanische Kolumnist John Leo die reformpädagogischen Konzepte aus den 1960er- und 1970er-Jahren zusammen, die für Kinder eine Befreiung von den Eltern, eine echte Emanzipation forderten. Der Begründer der antiautoritären Erziehung und der Einrichtung „Summerhill“, Alexander Sutherland Neill, folgte dem Grundsatz, dass sich Lernprozesse ausschließlich vom Kind aus entwickeln sollten.
Nicht zufällig fanden solche Konzepte besonders im Gefolge des Zweiten Weltkriegs Akzeptanz. Den auf unbedingten Gehorsam zielenden Drill des Nationalsozialismus und die autoritären Erziehungsstile der 1950er-Jahre wollte man nach Möglichkeit bereits im Kindesalter „ausmerzen“ und schlug teilweise ins andere Extrem um.
Ob nun antiautoritär genannt oder als „laisser faire“ („gewähren lassen“) bezeichnet – die Erziehungs- und damit Bildungsstile, die davon ausgingen, dass Eltern sich weitgehend aus den Bildungsprozessen ihrer Kinder heraushalten und nur darauf warten sollten, dass der Wissensdrang sich schon spontan aus dem Kind heraus entwickelt, werden mittlerweile als „kulturfeindlich“ betrachtet. „Kinder täten sich im Leben schwer, wenn sie all unser kulturelles Wissen durch eigene Ungleichgewichtserfahrungen wiederentdecken müssten und es nicht von uns erben könnten“, sagt der Religionspsychologe Bernhard Grom. Eine Gesellschaft ist mit dafür verantwortlich, welche Bildungschancen sie Kindern eröffnet – oder vorenthält.
Kinder entwickeln die Motivation zum Lernen und den Wissensdrang nicht von allein. „Das Kind kann sich die Welt nicht allein erschließen, es kann vor allem keine Entscheidungen über Dinge treffen, die es noch gar nicht kennt“, sagt der Arzt und Neurobiologe Joachim Bauer. Sie brauchen Stimulation, anregende Umgebung, auch Vorschläge, was sie erforschen, entdecken, lernen können. Wer sich der Bildung von Kindern annimmt, hat die Verantwortung, die Balance zu finden zwischen dem Engagement, das das Kind selbst beim Lernen aufbringt, und Anregungen von außen, die das Kind zu Lernprozessen anregen.
Sara und ihr Rucksack oder: Wie Kinder lernen können, eigene Erfahrungen zu machen
Sara war ein Einzelkind, das nie ohne Rucksack irgendwohin gebracht wurde. Gebracht aber wurde sie immer – ob zur Schule oder zum Spielen um die Ecke. Als Grundschülerin ging sie keinen Weg allein. Der Rucksack musste immer in der Nähe sein, wenn Sara sich bei Kindergeburtstagen ihren Platz suchte – am liebsten bei Erwachsenen, z.B. den Eltern des Kindes, das sie eingeladen hatte.
Der Rucksack enthielt eine Trinkflasche mit „Gänsewein“, wie sie sagte – also Leitungswasser, falls man das ihr anderswo einmal nicht gegönnt hätte. Vor allem aber enthielt er drei verschiedene Flaschen Hustensaft – Löser, Blocker, Krampfstiller –, über deren Namen und unterschiedliche Wirkungsweise Sara detailliert Auskunft geben konnte.
Eines Tages starteten Saras Eltern eine Telefonaktion, in der sie der Reihe nach die Mitschülerinnen und Mitschüler instruieren wollten, dass sie Sara bitte nicht mehr weiterhin mobben sollen. Eine beherzte Mutter hatte den Mut, diese Telefonkette zu unterbrechen, indem sie aussprach, was die meisten empfanden:
Sara konnte nicht gut Beziehungen und Freundschaften pflegen. Sie passte in das Bild, das sich aus Beobachtungen von Lehrerinnen und Lehrern ergibt: Schulkinder werden in jüngerer Zeit zunehmend ichbezogener und auf Erwachsene fixiert. Gerade Sara als Einzelkind war davon betroffen: Soziales Verhalten bildet sich nur aus, wenn Kinder in vielfältigen Beziehungsformen zu gleichaltrigen und nicht nur älteren Bezugspersonen stehen.
Sara ging keinen Schritt allein. Zwar machte sie „Erfahrungen“ im wahrsten Sinne des Wortes, wenn sie gefahren wurde – aber, um im Bild zu bleiben, „begriff“ dabei nichts. Dass man auf der Straße vorsichtig sein muss, dass man bei einer wilden Schlittenfahrt mal auf dem Po landen kann, die Verantwortung für einen eigenen Weg: All das lernte Sara nicht.
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