In diesem Zusammenhang sind auch die erstaunlichen Erfahrungen der Findhorn-Community zu erwähnen, die in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts datieren. Auf unfruchtbar-sandigem Boden im Norden Schottlands legte die Gemeinschaft einen üppigen, fast tropischen Blumen- und Gemüsegarten an – nicht durch den Einsatz von Kunstdünger, sondern durch „telepathischen Kontakt mit den engelhaften Wesen, die das Pflanzenwachstum überstrahlen und lenken“, durch direkte Kommunikation mit den Engeln, Devas, Naturgeistern und Elementseelen, die zum Beispiel kundtun, dass die Pflanzen Wasser brauchen oder vor dem Wind geschützt werden wollen. Die damals vieldiskutierte Erfahrung von Findhorn war: „Du kannst mit den Engeln sprechen“, du kannst dich einweisen lassen in die spirituelle Gemeinschaft mit der Natur, die unserer technischen Zivilisation sonst verloren gegangen ist. 24
Neben den Naturwesen finden wir weitere geistige Gestalten, etwa die Geister der Verstorbenen, die zum Guten, aber auch zum Bösen wirken können, sowie andere, auch lebende Menschen als Geistführer. „Sie haben mindestens einen Geistführer, der seit Ihrer Geburt bei Ihnen ist und bis zum letzten Atemzug an Ihrer Seite bleiben wird. Gewöhnlich ist dieser Geistführer ein Ahne – etwa ein Teil der Urgroßeltern –, ein Angehöriger, der mehrere Jahre vor Ihrer Geburt verstorben ist.“ 25Helga Schaub, von der wegen ihrer besonderen Aufmerksamkeit für die dunkle Seite der Mächte noch später die Rede sein wird, weiß darum, dass Mörder, Selbstmörder, rachsüchtige Seelen oder zu plötzlich Verstorbene die Aura eines Menschen besetzen können, in einer Wohnung oder auf dem Dachboden poltern oder von ihrem Grab her wirken. Sie bewirken Depressionen, grundlose Traurigkeit und Schwäche. 26Jana Haas ist von ihrer Urgroßmutter in die spirituelle Welt eingeführt worden, und auch noch nach deren Weggang blieb sie ihre spirituelle Lehrerin. „Ich empfing Visionen von ihr und erhielt Durchsagen in Bezug auf wichtige Lebensstationen.“ 27
Kurt Tepperwein gibt der Überzeugung Ausdruck, dass die Engel heute mehr als früher „allseits erfahr- und erkennbar“ sind. 28So ist es zu erklären, dass sich die Engelreligion immer mehr verbreitet. Die Zeit arbeitet für diese Religion, ja hat schon erfolgreich für sie gearbeitet. Denn immer mehr Menschen entdecken ihre spirituellen Kräfte, nehmen Kontakt zur Engelwelt auf, entringen sich der Herrschaft einer begrenzten, auf das Feststellbare und Machbare beschränkten Rationalität. „Vielleicht liegt die Zukunft in größerer Offenheit, persönlicher Integrität, innerer Reife, visionärem Mut, kooperativem Handeln, kreativer Selbstorganisation.“ 29Wieder ist es Jana Haas, die der Erwartung eines goldenen, spirituellen Zeitalters den prägnantesten Ausdruck verleiht. Sie ist sicher: „Das Goldene Zeitalter hat bereits begonnen, überall!“ 30Anzeichen dafür sind die immer deutlichere Abkehr von Unmenschlichkeit und der Gewalt gegen Mensch, Tier und Umwelt, also das Erwachen eines neuen Bewusstseins, das zwischen Gut und Böse, Hell und Dunkel, Entwicklung und Beharrung unterscheiden kann, das sich von der Bindung an Macht und Besitz, Dogmen und materialistischen Glaubensmustern befreit. Differenziert beobachtet sie, wie die Entwicklung in den verschiedenen Ländern unterschiedlich weit vorangeschritten ist. Von ihrer russischen Herkunft her kennt sie sich mit Ländern aus, in denen das Spirituelle noch „zwei Gesichter“ hat – weiße und schwarze Magie, Heiler, die ihre spirituellen Kräfte zu heilenden, und Magier, die sie zu schädigenden Wirkungen nutzen. Symbolfigur dieser Doppelgesichtigkeit ist für sie Rasputin, der skandal- und geheimnisumwitterte Heiler am russischen Zarenhof. Es kommt nicht von ungefähr, dass viele Diskotheken nach diesem Rasputin benannt werden – ein Hinweis auf die noch unklare Unterscheidung von hell und dunkel, die der Klärung harrt. In einigen Ländern aber ist die Entwicklung schon viel weiter gekommen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz sieht sie nur noch lichte Kräfte am Werk. Dafür sorgt schon die geistige Welt selbst, die andernfalls ihren Kräftefluss anhalten würde. Die spirituelle Evolution ist nicht allein Sache des menschlichen Reifegrads, sie ist das Werk und die Wirkung der geistigen Welt selbst. Es muss so sein, dass nach der Evolution der rationalen und technischen Fähigkeiten des Menschen nun auch eine Evolution der spirituellen Kräfte erfolgt. Die Erwartung eines goldenen Zeitalters fügt sich in das Fortschritts- und Evolutionsschema, das so sehr das neuzeitliche Weltbild bestimmt. Auch in dieser Hinsicht ist die Engelreligion eine Religion für unsere Zeit. Am Ende wird, so versichert Jana Haas, ein Zeitalter stehen, in dem die Ambivalenz von weißer und schwarzer Magie überwunden ist. In dem das esoterische (nur Eingeweihten zugängliche) Wissen, das immer auch mit Hochmut und Unterdrückung verbunden gewesen ist, ein für alle zugängliches exoterisches (für Nichteingeweihte verständliches) Wissen geworden sein wird. Ein „weibliches“ Zeitalter der Ebenbürtigkeit und Individualität wird es sein, das das „männliche“ Zeitalter der Unterordnungen und Unterscheidungen ablösen wird. Man sieht, die Engelreligion hat auch ihre Eschatologie.
Noch auf ein weiteres Merkmal der Engelreligion ist hinzuweisen. Sie gibt sich technikfreundlich, ja sie benutzt gerne technische Modelle für die Darstellung des Himmlischen. Auch dies ist neu gegenüber den alten Religionen. Angelika Arnolds erlebt das Universum „wie ein riesiges Netzwerk. […] Ich sende etwas aus, die Verbindung wird gesucht und hergestellt“: das Universum als Telefonzentrale. 31Am stärksten ist diese religiöse Technikkompatibilität bei der Amerikanerin Doreen Virtue ausgeprägt. Wie erklärt es sich, dass nicht alle göttlichen Botschaften richtig verstanden werden? Die himmlische Führung selbst erklärt es. Doreen: „Du sagst also, deine Kommunikation mit uns sei wie CDs, und unser Herz und Verstand sei so eine Art CD-Player?“ Himmlische Antwort: „Genau, du sagst es! Ich kann dir gar nicht sagen, wie begeistert ich bin, wenn meine Worte so ankommen, wie sie gedacht waren! […] Manchmal bewirkt der ,Staub‘, der sich auf euren Herzen und euren Gedanken niedergelassen hat, dass der ,Lesemechanismus‘ beim Empfang meiner kodierten Worte wichtige Zeilen und Daten überspringt.“ Doreen: „Also verpassen wir die Bedeutung deiner Antwort auf unsere Gebete aufgrund von Empfangsstörungen unsererseits?“ Gott: „Ja, genau […].“ 32Die älteren Religionen hatten die Problematik der Verständlichkeit von Gottes Wort etwas aufwändiger erklärt. Aber Doreen verfügt ja über einen heißen Draht zu Gott, sie kann direkt mit ihm telefonieren. Das Telefon gibt überhaupt das Modell für die Beziehung zwischen Himmel und Erde ab. Die himmlische Führung selbst lässt sich vernehmen mit der Äußerung: „Tut es öfter! Ich mag es, wenn meine heiß geliebten Kinder zu Hause anrufen. […] Es macht mich traurig, dass sich meine Kinder so schwer damit tun, zu Hause anzurufen. […] Sprecht einfach mehr mit mir, Kinder. Sprecht mehr mit mir.“ 33Das kann im Handy-Zeitalter jeder verstehen, während man sich in den Kirchen noch angestrengt darum bemüht, die Eigenart des Gebets als Gespräch mit Gott zu erklären. Die Engelreligion aber ist in der Moderne angekommen und bedient sich zwanglos ihrer Bilder und Erfahrungen. So auch Giulia Siegel, wenn sie davon spricht, dass sie mit ihren Engeln „arbeitet“ und dass man seine Engel beschäftigen muss, „damit sie ,fit‘ bleiben“. „Ich setze meine Engel immer wieder ein, ich trainiere sie quasi …“ Seine Engel kann man auch verleihen, wenn man sie gerade nicht so dringend braucht; in der Weihnachtszeit kann es aber zu Engpässen kommen, da sie dann überlastet sind. 34Die Engelwelt als Dienstleistungsunternehmen … Damit sind wir bei der Frage, wie denn der Alltag mit den Engeln konkret aussieht.
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