Samira Zingaro
»Sorge dich nicht!«Vom Verlust eines Bruders oder einer Schwester durch Suizid
Für die großzügige Unterstützung dieser Publikation danken wir:
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David Bruderer Stiftung
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E-Book: Clara Cendrós
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Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2013 by rüffer&rub Sachbuchverlag, Zürich
Erstellt auf der Grundlage:
Erste Auflage Herbst 2013
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info@ruefferundrub.ch | www.ruefferundrub.ch
ISBN e-book: 978-3-907625-73-6
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Vom Leben und Überleben
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»Niemand weiß, wie mit einem solchen Tod umzugehen.« Interview mit Eberhard Aebischer-Crettol, Pfarrer/Seelsorger
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»Ich würde nicht mit ihm reden wollen, ich würde lieber mit ihm tanzen gehen.« Sascha Bschor
»Ich glaube, er hätte sich nicht das Leben genommen, wäre er selbst Vater gewesen.« Max Bschor
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»Ständig kreisten die Gedanken um meinen Bruder, ich fragte mich, warum er ging, was ich anders, besser hätte unternehmen können.« Marie Dubois
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»Ich nehme mir jedes Jahr an ihrem Todestag frei, das weiß mittlerweile auch mein Arbeitgeber. Das ist mein Ritual, es ist mein Tag, es ist ihr Tag. Dann setze ich sie wieder auf den Olymp.« Yvonne Gadient
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»Selbst die scheinbar unendlich tiefen Abgründe, die sich in meinem Leben vor mir aufgetan haben und in die ich gestürzt bin, hatten einen tiefsten Punkt. Irgendwann fällt man nicht mehr tiefer.« Andri Sommerland
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»Oft frage ich mich, warum mein Bruder dies getan hat. Doch nur wenn man aufhört, in der Vergangenheit zu bohren, schafft man es, positiv weiterzuleben.« Simon Stuker
»Es gibt zwei Arten, mit Problemen umzugehen. Entweder man denkt: ›Schon wieder wird unsere Familie durch eine schreckliche Nachricht geprüft‹ – und lebt somit in ständiger Angst vor dem, was im Leben noch alles auf einen zukommt. Oder aber man bleibt zuversichtlich und glaubt daran, dass es wieder gut wird.« Julia Stuker
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»Ich wünschte, ich könnte ihm die Lücke aufzeigen, die er hinterlassen hat. Allerdings bezweifle ich, dass meine Worte damals etwas bewirkt hätten.« Michaela Walser
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»Hinterher ertrage ich es manchmal fast nicht, dass ich so naiv war und annahm, dass er einen Weg aus seiner Krise finden würde. Ich hätte nicht gedacht, dass er so weit gehen würde.« Silvia Widmer
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»Vergeht Zeit, kommt der Lebenswille zurück.« Interview mit Thomas Reisch, Psychiater
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Weiterleben
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Anhang Wichtige Adressen und Anlaufstellen Dank
No sky
No earth – but still
snowflakes fall
Kajiwara Hashin (1864–?)
Vom Leben und Überleben
Sie trösten auf Trauerkarten mit ewig gleicher Symbolik, eine verlassene Landstraße etwa, die am Bildrand den Fluchtpunkt sucht. Sie zieren Briefe in Blumengestecken: Worte, die Trauernde stützen sollen. Manche klingen hilflos, andere ermutigend; selten sind sie treffend, oft wirken sie ungelenk – dabei sind sie alle bloß gut gemeint. Es ist ein Ringen um Sätze, für die eine passende Sprache erst noch erfunden werden muss. Besonders nach einem unerwarteten Todesfall wie einem Suizid 1scheint es für Außenstehende schwierig bis unmöglich, ihr Beileid angemessen auszudrücken. Neben einer überwältigenden Anteilnahme zählten Plattitüden wie »Das Leben geht weiter« oder »Jede Krise hat auch ihr Gutes« zu den verlegensten Reaktionen, die den Hinterbliebenen in diesem Buch ans Herzen gelegt wurden.Ein Ratschlag aber ließ eine trauernde Schwester aufhorchen und wirkt so pragmatisch und unaufgeregt, dass man ihn beim ersten Hören durchaus als frech empfinden könnte. Er beschränkt die Zukunft der Trauernden auf zwei Richtungen: »Entweder bleibst du nun für den Rest deines Lebens verbittert, oder du bist dankbar für die Zeit, die du mit dem Verstorbenen verbringen durftest.« Verbitterung versus Dankbarkeit. Liegen bleiben oder aufstehen. Aufgeben oder fortfahren. Eine Entscheidung? So einfach in Worte gefasst, so schwierig in Taten umzusetzen. Und genau danach fragt dieses Buch. Es stellt diejenigen Personen ins Zentrum, die nach einem Suizid eines Familienmitglieds an der Kreuzung zurückgelassen wurden: Welche Richtung wählen Hinterbliebene, nachdem ein Nahestehender sie für immer verlassen hat? Bleiben sie stehen oder folgen sie dem Verstorbenen? Oder machen sie kehrtum und schlagen für sich einen komplett neuen Weg ein?
Anders ausgedrückt: Leben Zurückgelassene weiter oder überleben sie bloß?
Der plötzliche Tod wuchtet wie ein Spaltpilz im Leben der Hinterbliebenen. Nimmt sich ein naher Angehöriger das Leben, beginnt für sie eine Zeitenwende: Der auf einmal unbesetzte Platz am Esstisch wird zum quälenden Ausdruck dessen, was insbesondere Familien nach dem plötzlichen Tod eines Mitgliedes erfahren: Augenblicklich fällt ein Element aus dem vertrauten System, die Grundmauern beginnen zu wanken – und stürzen im schlimmsten Fall ein.
Zurückgelassene nach Suizid, in Fachkreisen auch »Survivors« genannt, stehen vor großen Hürden. Diese teilen sie ein Stück weit mit Betroffenen, die Menschen durch eine unerwartete Krankheit oder einen Unfall verloren haben – der plötzliche Tod katapultiert das bisherige Leben aus der gewohnten Laufbahn. Stillstand, während die Welt der Mitmenschen weiterdreht. »Survivors« haben nebst dem Schock und der Trauer mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen: Oft vergehen qualvolle Stunden, wenn nicht Tage, bis die Leiche nach der Obduktion freigegeben wird. Bei einer Selbsttötung rückt außerdem sofort die Suche nach der Ursache ins Zentrum, verknüpft mit der Schuldfrage und der Angst vor gesellschaftlichen Stigmata. Nicht nur das Leben danach gerät aus den Fugen: Hinterbliebene hinterfragen zusätzlich das gesamte Leben und Handeln vor dem Suizid, was zu einer tiefen Verunsicherung bis zu einem nur schwer zu behebenden Vertrauensverlust führen kann.
Die nachfolgenden Geschichten fokussieren sich auf hinterbliebene Brüder und Schwestern. Nach dem Suizid meiner Schwester stellte ich fest, dass es zwar viel Literatur für Eltern und Partner gibt, kaum aber etwas zum Thema Geschwistertrauer. Dabei kann die Geschwisterbeziehung durch die gemeinsame Kindheit sehr intim sein und gar zu den längsten Verbindungen in einem Leben zählen.2 Ähnlich wie die Eltern, erleben die Geschwister die Zäsur durch den plötzlichen Tod hautnah. Im Gegensatz zu diesen stehen sie jedoch in einer gewissen Distanz zu dem oder der Verstorbenen, da es sich nicht um das eigene Kind handelt, das sich für den Tod entschieden hat. Ein Bruder oder eine Schwester unterscheidet sich auch altersmäßig von den Eltern; Geschwister gehören der gleichen Generation an, sie haben oft noch ihr ganzes Leben vor sich oder stehen mittendrin. Dennoch kann sie die Trauer nicht minder beschäftigen, was zuweilen bei ihrer Sorge um die Eltern untergeht: Nicht selten sind die noch lebenden Söhne und Töchter der verbleibende Pfeiler, die letzte Freude und Hoffnung, die eine Familie fortbestehen lässt, wenn nicht gar ein wesentlicher Grund für die Eltern, überhaupt weiterzuleben. Umgekehrt kommt es auch vor, dass der Schmerz das Familienleben so überschattet, dass die Eltern ihrer Rolle nicht mehr gerecht werden.
In der Schweiz kommen über dreimal so viele Personen durch Suizid ums Leben wie durch einen Verkehrsunfall. Suizide geschehen überall auf der Welt, unabhängig von Nationalität, religiöser Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter. Laut WHO bringt sich alle 40 Sekunden ein Mensch um, das macht weltweit rund eine Million Suizide im Jahr. Wie viele Familien nach einem solchen Tod auseinanderbrechen ist nicht bekannt. Das Risiko, dass sich ein weiterer Angehöriger das Leben nimmt, erhöht sich nach einer Selbsttötung um ein Vielfaches.Die emotionalen,gesellschaftlichen und nicht selten auch körperlichen Folgen nach einem Schicksalsschlag stellen Beziehungen vor eine Zerreißprobe. Die Berichte in diesem Buch sollen deshalb auch Mut machen. Sie erzählen von Zurückgelassenen, die es trotz ihrer Belastung geschafft haben, auf ganz unterschiedliche Weise im Leben wieder Fuß zu fassen.
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