Das hörte Rolf schon nicht mehr. Er nahm mehrere Treppenstufen auf einmal und lief zu Tinas Büro. Sie saß am Computer und hatte die ersten Fotos auf dem Bildschirm. Rolf trat an ihren Schreibtisch. Ihr frisches Parfum stieg ihm angenehm in die Nase.
‚Die kleine, quirlige Tina ist eine hervorragende Aktenfrau‘, dachte er. ‚Sie arbeitet sorgfältig und achtete auf jedes winzige Detail.‘
„Hallo, Rolf.“ Tina drehte sich nur kurz um und zeigte auf den Bildschirm. Was Rolf sah, war ein Bild des Grauens. „Das ist die Leiche vom Muttental. Sie wurde in der Nähe vom Flöz Finefrau oberhalb des Maximusstollens gefunden.“
Rolf sah, dass sie im unteren Teil eines hohlen, vom Sturm abgebrochenen Baumes hing.
„Ach du Scheiße!“ Der Kommissar hielt vor Entsetzen die Hand vor den Mund.
„Warte mal, da kommen auch die ersten Fotos vom Hohenstein.“
Tina öffnete sie und sagte: „Wie es Lotter geschildert hat: Die Tote wurde ebenfalls unten im Baum aufgehängt.“
„Tina, ich fahre auch raus. Das muss ich mir genauer ansehen. Wenn mich nicht alles täuscht, könnten wir es mit einem Serientäter zu tun haben.“
In Windeseile verließ er die Polizeiinspektion.
Die Kollegen hinter der Glasscheibe der Anmeldung staunten nicht schlecht, als er nach gerade mal zehn Minuten wieder in seinem Wagen saß.
„Na klar“, rief Rolf und schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad.
Ein Taxifahrer stand mitten auf der Casinostraße. Er sammelte einen Betrunkenen ein, der wohl eine lange Nacht hatte. Rolf hupte. Endlich setzte sich das Taxi in Bewegung.
Rolf bog links ab und stand wieder. Die Ampel zeigte Rot. Sein Handy spielte die Musik von Metallicas Nothing Else Matters.
„Klaus, wat gibbet?“, rief Rolf über die Freisprechanlage.
„Wo bist du?“
„Ich bin auf dem Weg zu euch. Lasst alles, wie es ist und sagt Lotter Bescheid. Ich will mir den Fundort am Hohenstein ebenfalls ansehen. Das Bild ist ja erschreckend.“
„Geht klar, Chef. Wir haben die Lage im Griff und Dr. Breming wartet, bis du alles gesehen hast.“
„Prima, bis gleich.“
Die Ampel zeigte Grün und Rolf gab Gas. Er konnte bis zum Haus Witten durchfahren. Erst an der Brücke stoppte ihn wieder eine Ampel, die aber kurz danach wieder umsprang.
‚Kaum zu glauben, mal kein Stau auf der Ruhrbrücke‘, dachte Rolf, fuhr Richtung Bommern und bog rechts in die Rauendahlstraße ein.
Am Parkplatz Finefrau war schon mächtig was los. Immer mehr Schaulustige und Pressevertreter versammelten sich am Fundort. Die Kollegen von der Schutzpolizei waren damit beschäftigt, die Lage im Griff zu behalten.
Rolf beschwichtigte die aufgeregten Reporter mit seiner lauten, kräftigen Stimme: „Wir werden so bald wie möglich eine Pressekonferenz geben, in der wir Sie ausführlich informieren. Bis dahin bitte ich Sie höflich, uns die notwendige Ermittlungsarbeit machen zu lassen.“
„Dürfen wir denn berichten, dass eine Leiche gefunden wurde?“
„Bitte seien Sie so freundlich und warten Sie ab, bis unser Pressesprecher sich bei Ihnen meldet, damit wir fundierte Aussagen an die Öffentlichkeit geben.“
„Okay“, ließ der junge Reporter verlauten und trat den Rückzug an.
Auch die anderen Medienvertreter und Fotografen entfernten sich. Rolfs natürliche Autorität zeigte immer wieder schnell Wirkung.
Rolf Sahner lief mit Entschlossenheit auf die Schaulustigen zu.
„Leute, Leute, Sie behindern die Polizeiarbeit. Bitte haben Sie Verständnis, dass es noch keine näheren Informationen gibt und räumen Sie unverzüglich das Feld.“ Ein Raunen ging durch die Menge. Aber damit war der Drops gelutscht und die neugierigen Bürger zogen allmählich von dannen.
Der Kommissar lief ein Stück den Fußweg hinunter und stapfte querfeldein durch das Dickicht, um an den Fundort zu gelangen.
Dr. Walter Breming, Klaus Pfeffer und Ulf Schmidt von der Spurensicherung warteten ungeduldig auf ihn.
„Da bist du ja endlich“, riefen sie ihm entgegen.
Walter Breming untersuchte das Opfer.
Rolf blieb wie paralysiert stehen und ließ das Gesamtbild auf sich wirken. Er hatte schon viele Mordopfer gesehen, aber dieser Anblick berührte ihn besonders. Lag es an der jungen Frau? Der Auffindsituation? Er wusste es nicht.
Die Leiche hing in einem ausgehöhlten Baum. Um ihren Hals und an den Händen und Füßen war ein Stahldrahtseil geschlungen. Rolf sah, dass sie mit dem Seil in der Baumhöhle fixiert worden war. Der leblose Körper hing im unteren Teil des Baumes. Er bildete somit optisch eine Einheit, so, als wäre sie schon immer mit dem Baum verwachsen gewesen.
Rolf flüsterte: „Das wirkt wie ein Kunstwerk. Eine Installation.“
Er betrachtete die junge Frau genau. Sie hatte rot gefärbte, lange, glatte Haare, die bis zur Hüfte reichten. Eine große, silberne Creole schmückte ihr rechtes Ohr. Das linke Ohrläppchen war eingerissen und blutig. Bekleidet war sie mit einem petrolfarbenen Spitzen-T-Shirt, das an einigen Stellen zerrissen war. Der kurze Minirock war zerknittert und verschoben. Die farblich auf das T-Shirt abgestimmte Strumpfhose löchrig. Ein in Silber gefasster Mondstein baumelte an einer langen Kette. Schwarze, hochhackige Stiefeletten zierten ihre Füße. Am rechten Zeigefinger trug sie einen auffälligen Silberring. Den Mittelfinger der linken Hand schmückte ein Mondsteinring. Hunderte von Fliegen flogen um das Opfer herum. Es stank bestialisch.
Der Gerichtsmediziner sprach ihn an. Rolf zuckte zusammen. „Solche Seile benutzen Künstler zum Aufhängen ihrer Arbeiten. Schauen Sie, Sahner, zum krönenden Abschluss bespritzte man das Opfer mit Farbe. Dieser Schleier bedeckte ihr Gesicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie vor dem Aufhängen erstickt.“ Dr. Brehming öffnete die Augenlider der Toten.
„Sehen Sie, diese Punktblutungen im Augenweiß weisen darauf hin, dass ein dauerhafter Druck auf das Gesicht ausgeübt wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie mit einem Kissen oder einer Decke erstickt. Fundort ist nicht gleich Tatort, das ist jetzt schon deutlich. Schauen Sie sich mal die Fingernägel an. Darunter klebt Blut, das Opfer muss sich beim Täter festgekrallt haben. Es hat ein Todeskampf stattgefunden. Möglicherweise finden wir Fremd-DNA. Warten wir es ab.“
„Das hat was ausgesprochen Künstlerisches“, warf jetzt auch Ulf ein.
„Oh Mann, Karla kennt sich in dem Metier bestens aus. Die könnten wir jetzt gut hier gebrauchen“, bemerkte Pfeffer.
„Wir schaffen das auch ohne sie“, beruhigte Rolf ihn. „Karla soll auf keinen Fall in ihrem Urlaub gestört werden.“
„Sicher, Chef“, antworteten Ulf und Klaus wie aus einem Munde.
„Herr Schmidt hat wahrscheinlich recht. Der Tod wurde zelebriert“, antwortete Walter Breming auf Ulfs Einwurf.
„Was steckt dahinter? Was hat sich der Täter dabei gedacht? Welches Motiv hatte er oder auch sie?“, sinnierte Pfeffer.
Rolf bemerkte: „Das Opfer ist auffällig chic gekleidet. Was meint ihr? Als wäre sie mitten aus einer Party herausgerissen worden.“
„Dann diese Inszenierung der Leichenschau. Und die Farbspritzer. Was hat das zu bedeuten?“, äußerte sich Pfeffer.
„Auf jeden Fall will uns der Täter damit etwas sagen. Zumal die Leiche am Hohenstein ähnlich drapiert wurde. Genaueres weiß ich aber erst nach der Obduktion. Vor allen Dingen dann, wenn wir auch das zweite Opfer auf dem Tisch liegen haben. Ich vermute, dass es sich um einen kräftigen Menschen handelt. Wie hier die Leiche aufgehängt wurde, war es für den Täter auf jeden Fall kein einfaches Unterfangen. Vermutlich waren es sogar zwei. Der Tod ist wahrscheinlich in der Nacht von Sonntag auf Montag eingetreten. Aufgehängt wurde die Frau erst nach ihrem Tod. An den Händen und Füßen sind keine Leichenflecken zu sehen.“
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