Nach einigen weiteren erfolglosen Schulbesuchen in Joigny und Dijon, erhielt Petiot am 10. Juli 1915 ein Diplom, das den Abschluss einer höheren Schulausbildung (Bachot d’Enseignement Secondaire) attestierte. Den dafür notwendigen Unterricht erhielt er von seinem Onkel Vidal Gaston, einem Mathematiklehrer, zu Hause in Auxerre. Anschließend – der Erste Weltkrieg wütete in Europa – meldete sich Petiot freiwillig zur Armee und erhielt in Auxerre eine der ersten Rekrutierungsnummern (1097). Am 11. Januar begann die militärische Grundausbildung in Sens, einem idyllischen und verschlafenen Dorf, dessen Kathedrale von William of Sens entworfen worden war, der berühmt war für seine Arbeit an der Canterbury Cathedral.
Zehn Monate später musste Petiot in den schlammigen, blutigen und von Ratten heimgesuchten Gräben der Westfront seine Feuertaufe bestehen. Es war der Beginn von vier grauenhaften Monaten voller Luftangriffe, permanentem Artilleriebeschuss und brutalstem Einzelkampf. Um den jungen Petiot herum, er gehörte zum 89. Infanterieregiment, wurden Menschen verstümmelt, Knochen zerschmettert und Eingeweide aus den Körpern gerissen. Das schreckliche Gemetzel des Stellungskriegs war kaum in Worte zu fassen. Der Pariser Arzt Sumner Jackson, der in dem Gebiet, in dem Petiots Regiment kämpfte, einen Rettungswagen fuhr, schätzte vorsichtig, dass die französische Armee 100 Männer in der Minute verlor. Am 20. Mai 1917 wurde Petiot in einem Schützengraben in Craonne, nahe des Höhenzugs Chemin des Dames gelegen, einem strategisch wichtigen Zugang zum Fluss Aisne, verwundet. Eine Handgranate riss eine fast sieben Zentimeter tiefe Wunde in seinen linken Fuß.
Es war eine merkwürdige Verletzung. Eine in einen Schützengraben geworfene Handgranate würde die Explosionskraft in der Regel nach oben freisetzen und einen Fuß nicht an der Unterseite treffen. Und tatsächlich – mindestens ein Soldat von Petiots Regiment behauptete, er habe sich die Verletzung selbst zugezogen. Petiot hatte laut dessen Aussage ein Mörsergeschoss ins Rohr des Werfers eingeführt und den Fuß vor die Öffnung gehalten. Petiot widersprach der Aussage hartnäckig und in aller Schärfe und tat sie als niederträchtiges Ammenmärchen eines Mannes ab, der ihn um seinen Bildungsstand beneidete.
Zu dem Zeitpunkt zeigten sich die ersten deutlichen Anzeichen von Petiots psychischer Instabilität. Wie viele Soldaten litt er unter einer Kriegsneurose – ein Begriff, der aus dem Ersten Weltkrieg stammt: Er konnte weder schlafen noch essen und litt an quälenden Kopfschmerzen und Schwindel. Petiot verlor an Gewicht. Schon bei dem leisesten Geräusch begann er zu zittern oder er zuckte zusammen. Er litt an unkontrollierbaren und plötzlich auftretenden Weinanfällen und Bronchialbeschwerden. Letztere ließen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf einen früheren Giftgasangriff zurückführen. Der Oberarzt des Krankenhauses in Orléans diagnostizierte folgende Krankheiten: „Mentale Instabilität, Neurasthenie, Depressionen, Anflüge von Melancholie, Obsessionen und Phobien.“
Während der letzten 24 Monate des Krieges verlegte man Petiot ständig – von Krankenhäusern in Armeebaracken weiter in Psychiatrien und aufgrund von Diebstahl sogar in ein Militärgefängnis. Ihm wurde das Entwenden von Decken, Morphium und weiteren Armeevorräten zur Last gelegt, wie auch von Brieftaschen, Fotos und Briefen.
Ein Soldat erinnerte sich an die erste Begegnung mit Petiot: Er kehrte in die Baracke zurück und sah einen lächelnden Fremden ausgestreckt auf einem Klappbett, ein Buch in den Händen haltend. Der Neuankömmling las bei Kerzenlicht. Bei näherem Hinschauen erkannte der Soldat, dass sowohl das Buch als auch die Kerze ihm gehörten. Petiot schien es überhaupt nicht peinlich zu sein, sondern er meinte lapidar: „Was dir gehört, gehört auch mir.“ Der Soldat wollte wissen, ob das Prinzip auf Gegenseitigkeit beruhe, und machte sich nach der Bestätigung daran, Petiots Brotbeutel zu durchstöbern. Er fand lediglich ein Miniatur-Schachspiel vor.
Nach Petiots Ankunft durfte sich die Einheit über eine Vielzahl verschiedener Nahrungsmittel freuen, wie Räucherwurst, diverse Käsesorten, Süßigkeiten, Wein und andere durch den Krieg rar gewordene Gaumenfreuden. Ohne Zweifel stammten sie von bei Tag und Nacht stattfindenden Beutezügen. Der Soldat erinnerte sich an ein Gespräch über das Moralische am Diebstahl, den Petiot durch die These rechtfertigte, er sei völlig normal. „Was glaubst du wohl, wie die riesigen Vermögen zustande gekommen sind und wie es zu den Kolonien kam? Durch Diebstahl, Krieg und Enteignung.“ Gab es überhaupt eine Moral? Nein, antwortete Petiot. „Es herrscht immer das Gesetz des Dschungels. Die Moral wurde für die Reichen kreiert, damit man ihnen nicht die Güter nimmt, die sie durch ihre Raubzüge anhäuften.“ Später behauptete Petiot, dass er durch den Krieg viel gelernt habe.
Nur noch ein Mal kehrte er in den aktiven Dienst zurück, und zwar im September 1918 als Maschinengewehrschütze des 91. Infanterieregiments in Charleville in den Ardennen. Es war die zweite Schlacht an der Marne. Wie bei dem ersten Gefecht an der Marne vor vier Jahren standen die Deutschen kurz davor, nach Paris durchzubrechen. Doch auch hier gab es Zerwürfnisse mit seinen Vorgesetzten, woraufhin sich bei Petiot wieder Panikattacken einstellten. Ein Arzt vertrat später die Ansicht, dass er die psychischen Probleme nur vorgespielt habe, um sich vor dem Gefecht zu drücken. Angeblich soll er sich – um perfekt zu simulieren – Wissen in der Bücherei des Krankenhauses angeeignet haben, besonders in den dort vorhandenen medizinischen Fachbüchern. Jedoch waren die behandelnden Ärzte überzeugt, dass keine Täuschungsabsichten vorlagen und die Diagnose korrekt war.
Im Laufe der nächsten drei Jahre wies man Petiot in verschiedene Anstalten ein, darunter Fleury-les-Aubrais, Bagnères, Évreux und Rennes. Fünf Monate nach dem Waffenstillstand lag Petiot auf der psychiatrischen Station des Militärhospitals in Rennes. Sein Leiden diagnostizierte man als „mentale Instabilität im Zusammenhang mit Schlafwandeln, Melancholie und Depression, bestimmt durch eine suizidale Tendenz und Verfolgungswahn“. Petiot verließ die Armee im Juli 1919 und erhielt eine 40-prozentige Versehrtenrente, wurde aber im September 1920 vollständig krankgeschrieben. Untersuchende Ärzte glaubten, dass er arbeitsunfähig war, und schlugen daraufhin eine Einweisung mit „ständiger Überwachung“ vor.
Nach weiteren medizinischen Untersuchungen reduzierte man im März 1922 die Arbeitsunfähigkeit erneut auf 50 Prozent. Diese Diagnose wurde bei einer Nachuntersuchung im Juli 1932 bestätigt.
Bei der Einschätzung von Petiots psychischer Gesundheit befragten Ermittlungsbeamte der Armee verschiedene Familienmitglieder. Seine Großmutter Jeannquin Constance Bourdon erklärte ihnen gegenüber, dass man ihn in seiner Kindheit als „empfindlich und nervös“ hätte beschreiben können. Bis zum Alter von zehn oder zwölf Jahren war er Bettnässer und kotete ein. Nachts wollte er nicht schlafen, sondern immer „spazieren gehen“. Sein Onkel und Lehrer Vidal Gaston beschrieb ihn als einen „sehr intelligenten Jungen, der schnell verstand“, doch er fügte hinzu, dass er „ein bizarres Verhalten an den Tag legte“. Er bekam niemals Besuch von Freunden. Seitdem Gaston ihm bei den Abschlussprüfungen geholfen hatte, sah er Petiot kein einziges Mal mehr. Gastons Aussage nach konnte er „keine näheren Auskünfte über seinen psychischen Zustand geben“.
Der Armeeausschuss war damals nicht die einzige Institution, die den Patienten unter die Lupe nahm, denn Petiot hatte sich zu einem erstaunlich guten Medizinstudenten an der Universität von Paris gemausert und musste demzufolge ständig Prüfungen absolvieren. Nach der Entlassung aus dem Militär nahm er an einem Schnellkurs für Veteranen teil, der den ehemaligen Soldaten einen reibungslosen Wiedereintritt in das bürgerliche Leben ermöglichen sollte. In den ersten zwei Jahren studierte er Osteologie, Histologie, Anatomie, Biochemie, Physiologie und die Kunst des Sezierens. Sein drittes und letztes Jahr absolvierte er in Paris, er bestand die Prüfung am 15. Dezember 1921 mit Auszeichnung. In seiner Doktorarbeit Ein Beitrag zum Studium akuter progressiver Paralysen thematisierte er die „Landry’sche Paralyse“, benannt nach dem Arzt, der 1859 zuerst die Symptome der unterschiedlich verlaufenden Nervenkrankheit diagnostizierte.
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