Dem offiziellen Autopsiebefund zufolge war die Todesursache Frascots ein Aneurysma, verursachte durch „einen Unfall … einen plötzlich verlangsamten Herzschlag oder eine nicht bekannte Nebenwirkung einer subkutanen Injektion“. Das lag sicherlich im Bereich des Möglichen, doch der Doktor, der die Autopsie durchführte und die Sterbeurkunde unterzeichnete, war Villeneuve-sur-Yonnes Gerichtsmediziner. Und diese Position – wie Massu voller Erstaunen und Entsetzen feststellte – wurde von einem gewissen Dr. Marcel Petiot besetzt.
Nach einer Beerdigung auf dem Passy-Friedhof kehrten die Totengräber in Petiots Haus zurück. Sie bargen die Knochen und verwesende Körperteile aus der ausgetrockneten Grube, legten sie in hölzerne Behälter, die entfernt an Särge erinnerten und ließen sie zum gerichtsmedizinischen Institut am Place de Mazas im 12. Arrondissement transportieren.
Das Institut Médico-Légal (IML) war eines der berühmtesten forensischen Laboratorien weltweit. Nachdem das IML 1914 aus dem ehemaligen Gebäude gleich hinter Notre Dame am Place de Mazas gezogen war, hatte es sich von der ursprünglichen Funktion eines Leichenschauhauses zu einer fortschrittlichen Institution entwickelt, die die Rolle der Wissenschaft im Rahmen kriminalistischer Untersuchungen revolutionierte. Alphonse Bertillon war einer der berühmtesten und innovativsten Ermittler, ein früher Verfechter des sogenannten „anthropometrischen“ Ansatzes, mit dessen Hilfe Individuen durch spezifische eindeutige Messergebnisse identifiziert werden konnten.
Die französischen Gesetze des 19. Jahrhunderts differenzierten zwischen Erst- und Wiederholungstätern, wobei man die Ersttäter eher milde bestrafen konnte, was meist auch geschah. Um diesen Vorteil auszunutzen, legten sich Kriminelle oft verschiedene Namen zu, womit sie – im Fall, dass der Betrug nicht aufgedeckt wurde – immer wieder als Ersttäter galten. Nach Bertillons Methode identifizierte man jeden Verbrecher nun ein für alle Mal anhand von elf Punkten: Größe, Länge der ausgestreckten Arme, Höhe und Breite des Kopfes, Länge des Fußes, des Mittelfingers, des kleinen Fingers, des Armes vom Ellbogen bis zum Mittelfinger und weiteren Merkmalen. Hierbei zog man die linke Seite vor, denn sie veränderte sich bei einem Rechtshänder durch harte physische Arbeit kaum. Durch die präzisen Messungen ließ sich eine Person unzweifelhaft identifizieren. Zwei Menschen mochten nach Bertillon ein, zwei, vielleicht sogar drei übereinstimmende Werte vorweisen, doch niemals elf. Hier lag seinen Berechnungen zufolge die Wahrscheinlichkeit bei 1:268.435.456. Um selbst diese Möglichkeit auszuschließen, fügte er dem Verfahren noch drei weitere Referenzpunkte hinzu: die Augen- und Haarfarbe sowie die Farbe des Teints.
Im Februar 1883, nach einer jahrelangen Bestandsaufnahme von Daten und einer Verfeinerung des Klassifizierungssystems, identifizierte Bertillon einen Wiederholungstäter erfolgreich, eine Leistung, die als erster wissenschaftlicher Ermittlungsansatz der Kriminalgeschichte in die Annalen einging. Im Laufe der nächsten Jahre demonstrierte Bertillon den Wert seiner Methode wiederholt und ertappte 1884 nicht weniger als 241 Straftäter und sogar 425 im darauffolgenden Jahr. Am Ende der Dekade waren es schon 3.500. Ungefähr zur Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts konnte die Polizei einen Katalog mit fünf Millionen Profilen vorweisen.
Bertillon bereicherte die Ermittlungsarbeit durch weitere Techniken. Er standardisierte das Verbrecherfoto, indem er das Anfertigen einer Frontalaufnahme und einer Seitenaufnahme festlegte. Darüber hinaus forderte er von den Kollegen, immer eine Fotokamera zum Ort eines Verbrechens mitzunehmen, um dort die sogenannten Tatortfotos zu schießen. Zwar sträubte sich der Tüftler zuerst gegen die Technik der Daktyloskopie, der Abnahme von Fingerabdrücken, da er sie als Gefahr für sein eigenes System ansah, unterstützte die Anwendung der Methode dann aber doch. Bertillons Ansehen war innerhalb kurzer Zeit so rasant gestiegen, dass der britische Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle seinen Protagonisten Sherlock Holmes „seine tiefe Wertschätzung für den französischen Gelehrten“ ausdrücken ließ. Im Roman Der Hund von Baskerville beschreibt Dr. Mortimer, der Gegenspieler des fiktionalen Meisterdetektivs, Holmes und Bertillon als die zwei besten Ermittler Europas.
Zur Zeit des Falls Petiot leitete Dr. Albert Paul, Paris’ höchster Gerichtsmediziner, das IML. Der 65-jährige Forensiker bzw. Leichenbeschauer, wie man diesen Berufsstand ursprünglich bezeichnete, stammte aus einer Familie von Ärzten und Rechtsanwälten. Nachdem er sein Studium unter Paul Brouardel, einem führenden Experten auf den Gebieten der forensischen Pathologie und der forensischen Entomologie, also Insektenkunde, abgeschlossen hatte, wurde Paul 1918 Professor der forensischen Medizin an der Sorbonne und arbeitete an vielen bedeutenden Fällen, von denen besonders die Morde des Henri Landru in den Jahren 1920/1921 für großes Aufsehen sorgten. Landru führte die Behörden jahrelang an der Nase herum, während er in aller Seelenruhe reiche Frauen tötete, beraubte und dann deren Körper verbrannte.
Dr. Paul knackte schließlich den Fall, indem er Landrus Technik, sich der Leichen zu entledigen, kopierte, das heißt, er verbrannte menschliche Körperteile in einem Küchenherd. „Ein rechter Fuß“, erkannte Paul, „verbrannte in 50 Minuten, ein halber Schädel mit vorher entnommenem Gehirn in 36 Minuten, ein kompletter Schädel in 70 Minuten. Ein Kopf mit Gehirn, Haaren, Zunge usw. in ungefähr einer Stunde und 40 Minuten.“ Am schwierigsten war die Beseitigung des Rumpfs und des Thorax, was mit hoher Wahrscheinlichkeit erklärte, warum der Mörder in der Rue Le Sueur die Körper zerhackte, bevor er sie in die Flammen warf.
Dr. Paul war eine Legende auf seinem Fachgebiet und auch ein gern gesehener Gast der besseren Kreise der Pariser Gesellschaft, wo man ihn wegen der vielen Geschichten kannte, die er meist mit einem makabren Sinn für Humor erzählte. Kommissar Massu hatte großen Respekt vor dem Mann, den man „den Doktor der 100.000 Autopsien“ nannte. Die zwei hatten sich bereits vor 32 Jahren zum ersten Mal getroffen, im Frühjahr 1912, als beide noch ganz am Anfang ihrer Karriere standen – Massu bei der Brigade und Paul in der alten Gerichtsmedizin am Quai de l’Archevêché, bevor er nach dem Krieg seine Arbeit am Institut aufnahm. Massu erkannte schnell, dass der Leichenbeschauer ein empfindlicher Exzentriker war, der lange Fragen hasste und „Quasselstrippen“ auf den Tod nicht leiden konnte. Wenn Massu mit dem temperamentvollen Experten arbeitete, behielt er das stets im Hinterkopf.
Beim Fall Petiot assistierte Paul ein talentiertes Forensikerteam, bestehend aus den beiden Professoren Léon Dérobert vom Naturkundemuseum und René Piédelièvre von der medizinischen Fakultät der Universität von Paris. Sowohl Dérobert als auch Piédelièvre zählten zu den anerkanntesten Kapazitäten bei der Rekonstruktion fossiler Überreste und verfügten somit über ein Fachwissen, welches sich in diesem Fall als überaus wertvoll herausstellte. Paul hegte schon von Anfang an den Verdacht, dass die Arbeit an dem Fall weitaus komplizierter sein würde als bei Landru.
Die Gerichtsmedizin erhielt den Auftrag, die Opfer zu identifizieren, und zwar aus einer grauenhaften Masse verwester und verstümmelter Überreste, die man aus der Grube, dem Ofen und dem Keller in der Rue Le Sueur geborgen hatte. Dabei mussten sie Arme, Beine, Torsi und Oberschenkel wie bei einem Puzzle zusammenfügen, was der Arbeit an einem Dinosaurierskelett für das Museum ähnelte. Die Wissenschaftler sollten im günstigsten Fall die Anzahl der Opfer ermitteln, das Alter und das Geschlecht sowie die Todesursache und den Todeszeitpunkt. Ihre Berichte zählten zu den wichtigsten Beweismitteln für die Beamten, die nach jedem sich bietenden Strohhalm griffen, um die grundlegenden Fakten zu klären.
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