Atlantic Drive war der Name eines Apartmentgebäudes, das er manchmal als Stützpunkt für seine Unternehmungen verwendete, und auch der Name der Straße, in der es sich befand. Das einstöckige Stuck-Haus beherbergte ein paar Dutzend Familien, erwies sich aber als besonders effektiver Drogenmarkt, der rund um die Uhr geöffnet war. Der C-förmige Grundriss bedingte, dass man von der Straße aus nur in ein paar der Wohneinheiten Einblick hatte. Dies hatte zur Folge, dass potenzielle Käufer vorstellig werden konnten, ohne von der Polizei beobachtet zu werden. Hier erhielten sie alles von Crack und Angel Dust über Weed bis hin zu in Angel Dust getunkten, mit Sherman-Zigarrenpapier gedrehten Joints. Obwohl ständig Leute ein und aus gingen, gelang es irgendwie, das Gebäude „undercover“ zu halten. Nachdem die Transaktionen über die Bühne gegangen waren, wurden die Käufer rasch zurück auf die Straße eskortiert. Vor Ort herrschte Rauchverbot. Hier ließ es sich perfekt dealen.
Auch die Gangs waren in den Drogenhandel verwickelt, aber es gab keine wirklich etablierte Hierarchie. „Wenn jemand mitbekam, dass du ein Gangster warst, dann bekamst du immer etwas vorab“, erzählt Rapper J-Dee, der in der Poinsetta Avenue in Compton dealte. „Das lief immer auf Kommission ab. Jeder hatte einen Beeper und eines dieser schweren Ziegelstein-Telefone. Wenn du dir das in die Hose geschoben hast, rutschte sie dir runter.“
Dealer bunkerten ihre Vorräte in einem Geheimversteck. Dabei handelte es sich meistens um die Bleibe eines Drogensüchtigen, den man mit Crack bezahlte, vielleicht mit einem Gramm pro Tag. „Wir nannten sie Hausmann oder Hausfrau“, erklärt J-Dee und fügt hinzu, dass ihn keine Schuldgefühle plagen, Leuten eine so schädliche Droge verkauft zu haben. „Wir hielten ihnen schließlich keine Knarre an den Schädel.“
J-Dee, der als Mitglied von Ice Cubes Gruppe Da Lench Mob berühmt werden sollte, spezialisierte sich darauf, den Leuten direkt auf der Straße ihren Stoff wie bei einem Drive-Thru-Schalter von Taco Bell zu verchecken. Zu den Abnehmern zählten Angestellte einer nahegelegenen Flugzeugfabrik in Long Beach ebenso wie Suchtkranke aus der Nachbarschaft. Die Kohle versteckte er unter der Einlagesohle in seinem Schuh – „auf diese Weise konntest du zu Fuß flüchten“. Sobald er einmal 1.000 Dollar eingesackt hatte, trug er das Geld nachhause, um dann wieder zu seinem Standort zurückzukehren.
Eric dealte nicht mit jedem auf der Straße, sondern verkaufte im großen Stil, aber eben nur an Kunden, die er kannte, zum Beispiel seine Cousins, die vom Atlantic-Drive-Gebäude aus arbeiteten. Wenn er eine Nummer auf seinem Pager wiedererkannte, rief er von einem Münztelefon aus zurück. Natürlich musste man sich an Codes halten. Für einen 8-Ball (eine Achtel Unze Koks) musste die Pager-Nachricht die Ziffer „8“ enthalten. Für eine halbe Unze lautete der Code „12“. Wenn Eric ein Deal komisch vorkam, ließ er sich einfach nicht darauf ein. Ein Fehler hätte gereicht und alles wäre vorbei gewesen. Die Dealer aus Compton ließen sich auf keinen Bockmist ein – dafür erinnerte sich Eric zu gut an den Namen Horace Butler.
Die Goldmine
Horace Butler war Erics Onkel zweiten Grades – und das absolute Ebenbild des Rappers Buffy von den Fat Boys. Seine Schulkameraden zogen Butler ständig wegen seines Gewichts auf. „Also war er schon ziemlich abgehärtet“, erzählte sein Freund Mark Rucker. „Wenn du ihm einen Tritt gabst oder ihm ein Bein gestellt hast, schlug er dir einfach ins Gesicht.“ Er wohnte in der Nähe auf der Poinsettia Avenue und war so etwas wie Erics Mentor in Bezug auf die Drogen. Wenn man sich gut mit ihm stellte, gab sich Butler durchaus großzügig. Er war jedoch recht verschlossen und man musste sich sein Vertrauen erst einmal verdienen. Allerdings vertraute er seinem Blutsverwandten Eric. Als er ein Teenager war, machte Butler ihn zu seinem Boten, der die Kunden mit Stoff versorgte, nachdem Butler die Deals abgeschlossen hatte.
Eric, der die Dominguez High School geschmissen hatte, hatte bis dahin nicht viel Ahnung vom Drogengeschäft. Als Teenager hatte er ein paar Spritztouren mit gestohlenen Autos unternommen. Auch hatte er schon den einen oder anderen Einbruch auf dem Kerbholz. Er stahl Farbfernseher und Videorecorder. „Einmal wollte er seiner Mom einen gestohlenen Fernseher schenken“, erinnerte sich Bigg A mit einem Lachen. Doch was das Dealen betraf, so war Eric noch ein Neuling. Deshalb kam es für ihn auch überraschend, als Butler ihn eines Tages im Jahr 1984 einlud, mit ihm eine Runde in seinem Truck zu drehen.
Eric kletterte in Butlers Wagen, einen GMC mit Metallic-Lackierung und Chromfelgen an den Geländereifen, der eigentlich nicht Butler gehörte, sondern einem anderen Typ aus der Gegend, der aber inzwischen im Knast saß. Die Karre war beschlagnahmt worden und Gerüchten zufolge waren in ihr immer noch einige Lagen Sherman-Joints verstaut. Niemand traute sich, Anspruch auf den Wagen zu erheben, da jeder fürchtete, schließlich selbst im Kittchen zu landen. Doch Butler war das egal. Ihm gelang es, sich den Wagen zu sichern – und nun saß er hinter dem Steuer dieses großen, schönen GMC.
Mit Eric an seiner Seite fuhr Butler den Schlitten zu einer geheimen Location in der Nachbarschaft, fernab von neugierigen Blicken. Butler blickte sich um und wollte auf Nummer sicher gehen, dass ihn auch niemand beobachtete. Dann kramte er an der Seite eines verlassenen Hauses eine Einkaufstüte aus Papier hervor. Er öffnete sie und zeigte Eric ihren Inhalt: sorgfältig geschichtete Geldbündel, die von Gummibändern zusammengehalten wurden. „Pass für mich darauf auf“, sagte er, bevor er die Tüte wieder versteckte. Eric wusste nicht, was er davon halten sollte, willigte jedoch prompt ein.
Ungefähr zur gleichen Zeit benahm sich Butler auch sonst seltsam. Rucker fiel das schon am Anfang der Woche auf, als er an seinem Drogenspot in der Glencoe Street stand, nur einen Steinwurf entfernt vom Haus eines gemeinsamen Freundes, Emil Moses, der sich gerade erst in seiner Garage erhängt hatte. Nachdem die Polizei eingetroffen war und der Gerichtsmediziner sich um den Körper kümmerte, versammelte sich eine Menschenmenge. Butler und Rucker unterhielten sich und beklagten ein paar Minuten lang den Tod des Freundes, bevor Rucker wieder Geschäftliches ansprach. Er war auf der Suche nach Ware: „Hast du etwas?“
„Nein“, antwortete Butler, der die Umgebung mit seinen Augen abtastete. „Ich lass es locker angehen und gönne mir eine Auszeit.“
„Warum denn?“
„Die Lage ist irgendwie komisch zur Zeit.“
Die beiden Männer gingen daraufhin ihrer Wege und verabredeten sich zur Beerdigung von Moses, bei der Rucker als Sargträger fungieren sollte. Für diesen Anlass hatte er sich sogar einen Anzug ausgeliehen. Doch Butler sollte es nicht mehr dorthin schaffen. Ein paar Tage später, kurz nach Mitternacht, fuhr er seinen Truck durch Mid-City in Los Angeles und wollte gerade auf den Freeway 10 auffahren. Als er vor einer Ampel zum Stillstand kam, wurde er von insgesamt sieben Kugeln getroffen, die offenbar von seinem Beifahrer abgefeuert wurden, der anschließend aus dem Wagen gesprungen war.
Da sein Fahrer nun tot war, begann der Truck langsam rückwärts zu rollen, bis er mit einem Masten kollidierte und stehenblieb. Dieser Mord warf eine Reihe von Fragen auf: Wer steckte hinter dieser Tat? Warum wurde Horace Butler ermordet? Ging es dabei um Geld? Oder um den Truck? Um Drogen? Nur eines war klar: Es würde in dieser Woche noch ein zweites Begräbnis in Compton geben.
Butlers Tod traf Eric schwer. „Er und ich trafen uns jeden Tag“, sagte er. „An diesem Abend musste ich zufällig etwas mit meiner Mutter machen. Deshalb war ich nicht dabei. Wahrscheinlich wäre ich ebenso tot wie er, wenn ich dort gewesen wäre.“
Читать дальше