George zuckte die Achseln. „Aber dann sehr sauber.“
Es erscheint seltsam, dass Paul den ganzen Weg zur Forthlin Road gemacht haben soll, die weit außerhalb des Stadtzentrums lag, um dann wenig später die achtzehn Kilometer zurückzufahren. Tony Barrow, der bald die Presseabteilung von NEMS übernahm, hält Pauls Verspätung für reine Strategie. „Er wollte sich einen dramatischen Auftritt verschaffen und nach Divenart als Letzter hereinrauschen.“96 Pauls Motive offenbarten sich in einer geflüsterten Unterhaltung, von der Brian Epstein Barrow wenig später berichtete (und die Brians Assistent Alistair Taylor, der bei dem Treffen ebenfalls zugegen war, ihm bei anderer Gelegenheit ebenfalls schilderte). „Paul nahm Brian beiseite und sagte ihm: ‚Ob diese Band es schaffen wird oder nicht, ich werde jedenfalls ein großer Star‘“, berichtet Barrow. „Er sagte: ‚Die Band ist toll, und wenn wir es alle zusammen schaffen, dann ist das super. Aber wenn nicht, dann werde ich trotzdem ein Star. Nicht wahr, Brian?‘ Und er bekam Brian mehr oder weniger dazu, dass er ihm zustimmte.“
Epstein ging an die Arbeit und nutzte seinen Einfluss als größter Schallplattenhändler der Region, um der Gruppe einen Vorspieltermin bei Decca Records in den Londoner Studios des Unternehmens zu organisieren. Die Session wurde für den 1. Januar 1962 frühmorgens angesetzt, und die Beatles waren überglücklich. Aber dieser entscheidende Schritt nach vorn war von einer Reihe neuer Direktiven ihres Managers begleitet. Sie sollten auf der Bühne nicht rauchen, nicht trinken, nicht essen und kein Kaugummi kauen. Und sie sollten auch nicht mehr in ungewaschenen Lederklamotten und in schwarzen T-Shirts erscheinen. Es war an der Zeit, dass die Bandmitglieder etwas Geld in Anzüge und Krawatten investierten, wie es sich für professionelle Musiker gehörte. Vor den Auftritten mussten sie Setlisten schreiben und sich dann auch daran halten. Und wenn ein Song zu Ende war, hatten sie den Applaus des Publikums mit einer tiefen, wohleinstudierten Verbeugung entgegenzunehmen. „Und wir haben es gemacht“97, erinnerte sich Paul. „So war nun mal das Showgeschäft. Wir hielten nun Einzug in das ganze magische Reich.“
Brian half ihnen auch dabei, die Songs auszuwählen, die sie für die allmächtigen Decca-Manager der Abteilung Artist & Repertoire spielen sollten, und er steuerte dabei weg von den harten Rocktiteln und hin zu den Shownummern und Cabaretsongs, die bisher zwar nicht von entscheidender Bedeutung gewesen waren, aber stets ihre Vielseitigkeit unter Beweis gestellt hatten – „September In The Rain“, „Till There Was You“ und dergleichen. Sie spielten auch drei Lennon-McCartney-Kompositionen, wählten aber solche („Love Of The Loved“, „Hello, Little Girl“ und „Like Dreamers Do“), die kaum erahnen ließen, welche Kreativität in ihnen schlummerte.
Der Vorspieltermin lief nicht besonders gut. Die Band war verkatert, da die Musiker in London ausgiebig bis in die frühen Morgenstunden Silvester gefeiert hatten. Sie klangen schleppend, und ihre seltsame Songauswahl („The Sheik Of Araby“ – war das wirklich eine gute Idee?) machte das Ganze noch schlimmer. Dennoch schloss der leitende Toningenieur Mike Smith die Session mit einem Lächeln und reckte den Daumen in die Höhe, bevor er erklärte, er sehe keinen Grund, weshalb sie nicht schon bald Aufnahmen für das Label machen sollten. Leider war sein Boss Dick Rowe ganz anderer Meinung, und unterbrochen von vielen Ähs und Öhs teilte er Brian dies auch schließlich mit. Die Beatles würden keinen Vertrag bei Decca bekommen. Brian schwor, es dennoch weiter zu versuchen, und um zu beweisen, wie überzeugt er von der Band war, versüßte er den Jungs die Anreise zum nächsten zweimonatigen Engagement in Hamburg, indem er ihnen ein Flugticket spendierte.
Die Band und ihr Manager waren für zwei verschiedene Flüge von Liverpool nach Hamburg gebucht, und John, Paul und Pete kamen ein wenig früher an als George und Brian. Nach der Ankunft in Hamburg blieben sie am Flughafen und warteten auf den nächsten Flieger aus der Heimat. Als sie wieder zum Gate zurückkehrten, sahen sie, dass Astrid dort wartete. Sie freuten sich riesig, ihre alte Freundin wiederzusehen, und liefen ihr entgegen. Woher hatte sie gewusst, dass sie kommen würden? Wo war Stuart? Astrid sagte zuerst nichts. Als sie endlich einen Satz herausbekam, warfen ihre Worte die drei Musiker beinahe um.
„John fing hysterisch an zu lachen. Pete weinte und konnte gar nicht aufhören. Und Paul saß einfach nur da, verbarg das Gesicht in den Händen und sagte kein Wort.“98 Die Szene steht Astrid auch fünfzig Jahre später noch lebhaft vor Augen. „Es ist schrecklich für junge Leute, für die der Tod noch so weit entfernt ist, wenn sie plötzlich hören, dass einer ihrer Freunde nicht mehr da ist.“
Stu, sagte Astrid, war tot.
Im Rückblick schien sich alles wie ein Mosaik zusammenzufügen. Stu hatte schon jahrelang an Kopfschmerzen gelitten und oft so heftige Anfälle gehabt, dass er sich hinlegen musste. Dies hatte sich in den letzten Monaten verschlimmert, und zusätzlich litt er an Stimmungsschwankungen und wurde plötzlich aggressiv. Aber die Ärzte konnten auch bei Röntgenuntersuchungen nicht feststellen, woran Stu litt. Versuchen Sie sich zu entspannen, sagte man ihm. Dabei übersahen sie jedoch, dass sich ein kleiner, aber bösartiger Tumor in seinem Gehirn eingenistet hatte. Die Schmerzen belasteten sein Leben weiterhin schwer, bis er am 10. April in dem Zimmer, das er mit Astrid im Haus ihrer Mutter teilte, zusammenbrach. Als der Krankenwagen kam, konnte man nichts mehr für ihn tun. Der erste Bassist der Beatles starb auf dem Weg ins Krankenhaus, nur wenige Stunden, bevor seine früheren Band-Kumpel am Flughafen ankamen. Astrid war gekommen, um Stuarts trauernde Mutter Millie Sutcliffe abzuholen. Als seine Familie wieder nach Hause gefahren war, wachte Astrid morgens allein auf und musste sich mit dem neuen, leeren Leben arrangieren, das nun vor ihr lag. In den nächsten Wochen merkte sie, dass sie auf Stus alte Freunde zählen konnte, die ihr dabei zu helfen versuchten, über Stus Tod hinwegzukommen. „Sie kümmerten sich wirklich sehr um mich, wir redeten viel über Stu und weinten zusammen“99, sagt Astrid. „Es war für sie alle sehr schwer, vor allem für John. Man konnte den Zorn richtig spüren, der in ihm brodelte.“
Die Wochen in Hamburg vergingen in dem schon vertrauten verschwommenen Nebel aus Lärm, Alkohol und Amphetaminen, und die Beatles kehrten gerade rechtzeitig nach Hause zurück, um einen neuen Vorspieltermin wahrzunehmen, dieses Mal bei Parlophone Records, einem wenig renommierten Tochterunternehmen des großen Schallplattenkonzerns EMI. Der A&R-Chef der Parlophone, George Martin, hatte es ursprünglich dem Toningenieur Ron Richards überlassen, sich die Gruppe anzuhören, doch der war so fasziniert, dass er seinen Boss hinzuholte. Martin war insgesamt vom Spiel der Gruppe recht beeindruckt. Vor allem aber mochte er die Beatles auf der persönlichen Ebene – jedenfalls die drei von ihnen, die etwas sagten. Pete saß meist still da, war zwar nett, machte aber einen etwas zurückhaltenden Eindruck. Das passte dazu, dass auch sein Schlagzeugspiel nach George Martins Ansicht nicht den Schwung und die Energie hatte, die sich der Produzent vorstellte. Als er Brian wenige Tage später telefonisch ein Angebot unterbreitete, machte er auch keinen Hehl aus diesem Umstand. Die Gitarristen waren in Ordnung, aber Parlophone würde einen Session-Schlagzeuger anheuern, der die Beatles bei ihrer ersten Aufnahmesession unterstützte. Deswegen brauche man sich allerdings keine Sorgen zu machen, fügte er gleich hinzu. Viele Gruppen arbeiteten auf diese Weise. Deswegen konnte Pete durchaus weiterhin die Konzerte bestreiten.
Da waren sich die anderen Beatles allerdings nicht so sicher.
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