Dabei war er doch nur ein »song and dance man«, wie er es bei einer Pressekonferenz schon in den Sechzigern verkündet hatte, eher Hofnarr jenes Aufbruchs als dessen Spiritus Rector. Vordergründig mochte das scherzhaft geklungen haben, und doch war es die Wahrheit. Seine jedenfalls. Verstanden hatte das damals keiner. Und auch später nur die Wenigsten.
Nun, in den Achtzigern, ahnt er, dass mehr nötig sein würde als nur ein neuerlicher Haken, mit dem er Markt, Medien und Publikum verwirren könnte. Er muss sich selbst, den Robert Zimmerman aus Hibbing, Minnesota, ein für allemal abkoppeln vom Mythos Bob Dylan, den er ohnehin nur noch mit ungesunden Mengen Alkohol erträgt. Er muss den Messias der längst sakrosankten Pop-Revolution exorzieren. Und er muss sich ein gänzlich neues Publikum suchen. Dazu erklärt er in Chronicles: »Ich brauchte ein neues Publikum, weil mein damaliges mehr oder weniger mit meinen Platten aufgewachsen war und mich nicht mehr als neuen Musiker akzeptieren konnte, was verständlich war. In vieler Hinsicht hatte dieses Publikum seinen Zenit überschritten, und seine Reflexe waren hinüber. Sie wollten nicht teilnehmen, sondern zuschauen. Das war okay, aber das Publikum, das mich entdecken sollte, musste eines sein, das nichts von gestern wusste.«
Er zieht die Konsequenzen: Schluss mit der ewigen Mühle aus mehr oder weniger zeitgemäßen Albumproduktionen, anschließender Promotionarbeit mit Interviews und darauffolgender, aufwändiger Tournee. Nichts davon. Statt dessen: alles eine Nummer kleiner. Kein Zeitdruck mehr, Tourneen lieber in Clubs und Hallen, mit kleiner Bandbesetzung sowie auf das Nötigste beschränkter Produktion. Und: keine Interviews mehr! Warum sich offenbaren, wenn das Werk den Künstler doch auf der Bühne hinreichend erklärt? In Sachen Publikum hat er schnell einen Masterplan: »Ich rechnete mit drei Jahren, weil ich dachte, dass sich nach dem ersten Jahr viele ältere Leute ausklinken, aber jüngere Fans im zweiten Jahr ihre Freunde mitbringen würden, so dass es unterm Strich gleich viele bleiben«, so spekulierte er. »Und die würden im dritten Jahr wiederum ihre Freunde mitbringen und gemeinsam die Keimzelle meines zukünftigen Publikums bilden.«
Wobei Dylan nach durchwachsenen Alben und durchaus angeschlagener Reputation auch seinen Marktwert in den Achtzigern realistisch einschätzt: »In Wirklichkeit war ich gerade gut genug für Club-Konzerte. Ich konnte kaum kleinere Hallen füllen.« In der Tat, bei allem Ruhm der überlebensgroßen Legende – das Rock- und Pop-Publikum der Achtzigerjahre verehrt längst andere Helden als den inzwischen 46-jährigen Schöpfer von Like A Rolling Stone. Im Frühling 1988, kurz nach den Aufnahmen zum launigen Allstar-Treffen Traveling Wilburys (1989, mit Tom Petty, George Harrison, Jeff Lynne und Roy Orbison), beginnt Dylan in New York mit den Proben zur sogenannten Interstate 88-Tour, die ihn anlässlich der Veröffentlichung von Down In The Groove bis Ende des Jahres kreuz und quer durch die USA führen soll. Die angeheuerte Tourband ist tatsächlich so klein wie noch nie, sie besteht aus nur drei Musikern: G. E. Smith an der Gitarre, Marshall Crenshaw, in den Achtzigern selbst erfolgreicher Songwriter und Solokünstler, am Bass sowie Schlagzeuger Christopher Parker. Zusammengestellt hat die Band nicht Dylan selbst, sondern sein alter Weggefährte Elliott Roberts. Kurz vor dem Tourstart wird Crenshaw durch Kenny Aaronsson ersetzt. Am 7. Juni ist es soweit: Als Dylan mit seinem Trio die Bühne des Concord Pavillon in Concord, Kalifornien, betritt und mit dem Opener Subterranean Homesick Blues den ersten von 13 Songs dieses Abends spielt, ist das der Beginn von etwas, das bis heute nicht endete.
Schon die Setlist jenes denkwürdigen Konzerts in Concord spricht Bände: Kein einziger Song des (zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten) neuen Albums Down In The Groove wird gespielt. Lediglich Drifting Too Far From Shore ist im Programm, ein Albumtrack von Knocked Out Loaded und auf der B-Seite der just erschienenen Single Silvio veröffentlicht. Der Rest: ausnahmslos Klassiker, darunter Masters Of War, Like A Rolling Stone, Maggie’s Farm und Boots Of Spanish Leather. Das Material wird in strammen Arrangements präsentiert, ohne Backgroundsängerinnen und ohne zusätzliche Instrumentalisten (lediglich Neil Young steuert als Gast bei zwei Songs seine einzigartige Gitarre bei). Dylan macht Ernst, stellt sich seinen Songs und verzichtet auf die lustlose Verhunzung des eigenen Mythos. Stattdessen greift er beherzt in seine riesige Repertoire-Kiste und förderte daraus zutage, was ihm gerade in den Sinn kommt. Er nimmt die Songs, die eigentlich unantastbaren, wirft sie sich selbst und seinen Begleitern zum Fraß vor und lässt bewusst offen, was daraus werden würde. Kein Wunder also, dass bei den insgesamt 71 Konzerten dieser ersten Etappe der Never Ending Tour 92 Titel zu Live-Ehren kommen.
Bei den ersten Gigs spielt sich die Band frei, rockt rau und hemdsärmelig und verpasst den Stücken eine kräftige Energie-Dosis. In der Regel verlaufen die Abende nach folgendem Muster: ein halbes Dutzend Stücke mit Band, dann ein kurzer, zwei bis drei Songs umfassendes Akustikset, bei dem sich Dylan von G. E. Smith begleiten lässt, und abschließend ein elektrisches Finale mit noch einmal vier bis fünf Songs.
Das Projekt lässt sich gut an. Der Altmeister scheint zufrieden, er hat sich offenbar am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Wie wichtig es Dylan mit dem Entschluss ist, kontinuierlich über das ganze Jahr hinweg Konzerte zu geben, lässt sich aus einem Detail in den Verträgen seiner Begleitmusiker ersehen: Darin ist geregelt, dass der Unterzeichner an mindestens 280 Tagen im Jahr für Konzerte zur Verfügung stehen muss. Zum Vergleich: Ein Kalenderjahr hat durchschnittlich 250 Arbeitstage – minus Urlaubsanspruch.
Für 1989 nimmt sich Dylan denn auch jede Menge vor. Im Frühling tourt er durch Europa und setzt das Ganze im Sommer in den USA fort, wo er mit nur kurzen Unterbrechungen bis Mitte November unterwegs ist. Die Jahresbilanz umfasst 99 Shows. Damit nicht genug, auch auf dem Plattenmarkt lässt Dylan jede Menge hören. Neben dem bereits erwähnten Live-Dokument der Tour mit Grateful Dead ist es vor allem sein neues Studioalbum Oh Mercy, entstanden im März und April in New Orleans unter der Regie von Daniel Lanois, das die Fans aufhorchen lässt. Lanois ist es gelungen, Dylans neuen Songs ein zeitgemäßes, einheitliches Soundgewand zu schneidern, das weder poliert noch modisch wirkt. Zudem gehören Stücke wie Political World, Most Of The Time oder Everything Is Broken zum Besten, was Dylan in den Achtzigerjahren zustande bringt. Erstmals seit Infidels wirkt ein Dylan-Album homogen und in sich schlüssig. Die Kritiker, die bislang über die Konzerte der Never Ending Tour die Nase gerümpft und Dylan als Plattenkünstler bereits abgeschrieben haben, überschlagen sich vor Begeisterung.
Der Mann mit der asthmatischen Quengelstimme hat sich erfolgreich neu erfunden. Auch 1990 füllt Dylan bis zum Rand mit Tourneen, Plattenaufnahmen und sonstigen Aktivitäten, darunter gar die Gründung eines Shops für Kinderbekleidung, den er zusammen mit seiner Cousine Beth Zimmerman in Los Angeles eröffnet. Der Name der Boutique: Forever Young – was sonst? Nach einer kurzen Wintertournee vollendet er im April die Sessions zu seinem nächsten Studioalbum, dem etwas schludrigen Under The Red Sky, bevor er Ende des Monats mit den Traveling Wilburys – nur noch zu viert, da Roy Orbison am 6. Dezember 1988 verstorben ist – ein zweites Album einspielt. Danach bis zum Ende des Jahres wieder Konzerte, Konzerte, Konzerte. So geht das nun schon im dritten Jahr, den Titel »hardest workin’ man in show business« hätte Mr. Zimmerman redlich verdient.
Viele stellten sich in jenen Jahren die Frage, was es nun eigentlich mit dieser Never Ending Tour auf sich hat (der Begriff stammt vom britischen Journalisten Adrian Deevoy, der Dylan im Herbst 1989 für das Magazin Q interviewt hatte). Presse und Publikum wunderten sich, dass eine gefeierte Legende wie Bob Dylan rastlos wie ein Fliegender Holländer des Rock’n’Roll durch die Konzerthallen geisterte. Hatte er das wirklich nötig? Und was wollte er damit erreichen? Dylan selbst hat dazu in diversen Interviews Aufschlussreiches geäußert. Zum Beispiel 1997 in London: »Ich bin Musiker, nicht einer, der sich ab und zu mal eine Platte kauft. Für mich ist das alles mehr als nur Entertainment. Das ist mein Job, mein Gewerbe, mein Handwerk. Auf der Bühne zu stehen ist für mich so natürlich wie das Atmen.«
Читать дальше