Einer der zurückgewiesenen Männer war der einundzwanzigjährige Noel Redding, Bassist der Jimi Hendrix Experience. Noel war in Folkestone geboren, einer Stadt im Südosten Englands, und kannte Pubs und deren schlecht gelaunte Wirte bereits sein Leben lang. Noch nie war er weggeschickt worden, wenn er ein Getränk bestellen wollte, höchstens nach der Sperrstunde. Aber noch wurde nicht geschlossen, und Redding konnte sich nicht vorstellen, was den Barmann veranlasst haben mochte, so zu reagieren. „Ich hab ernsthaft überlegt“, erinnert sich Noel Jahre später, „ob der Kerl vielleicht unsere Single ‚Hey Joe‘ scheiße fand.“
Sowohl Noel als auch sein Begleiter, Jimi Hendrix, hatten lilafarbene Schals um die Hälse geschlungen und trugen stolz zerfranste Kraushaarfrisuren, die sich wie Heiligenscheine um ihre Köpfe legten. Noel hatte grellviolette Schlaghosen an, während Jimis eng anliegende Beinkleider aus weinrotem Samt gefertigt waren. Jimi trug dazu ein Piratenhemd mit Rüschen, das sich auf der Brust üppig bauschte, und über der Jacke ein schwarzes Cape. Die einzigen Leute, die sich so kleideten, waren Schauspieler aus einem Theaterstück des achtzehnten Jahrhunderts – oder eben Rockstars. Und dennoch hatten Noel und Jimi hunderte von Pubs in ähnlich abgefahrener Aufmachung besucht und waren nicht abgewiesen worden. In London erzielten sie damit eher den gegenteiligen Effekt: Hatte man sie erst einmal erkannt, wurden sie wie Mitglieder der königlichen Familie behandelt und verehrt.
England war ganz verschossen in den damals vierundzwanzigjährigen Jimi. In den sechs Monaten, die er in Großbritannien gelebt hatte, war er in vielen Pubs Ehrengast gewesen, und sogar der von ihm bewunderte Paul McCartney hatte ihm einmal ein Bier ausgegeben. Legendäre Musiker, die er seit Langem anbetete – Eric Clapton, Pete Townshend und Brian Jones von den Rolling Stones –, nahmen ihn als Gleichgesinnten und Freund in ihrer Mitte auf. Die Presse pries ihn als aufstrebenden Rockstar und verlieh ihm Titel wie „Der wilde Mann von Borneo“ und „Der schwarze Elvis“. Zwischen zwei Sets schnell ein Bier zu trinken, was Noel und er gerade vorhatten, war nur dann ein Problem, wenn Jimi von seinen zahlreichen Fans umschwärmt wurde. Weil sie eben jenen Fans aus dem Weg gehen wollten, die Jimi in der Regel sexuell unwiderstehlich fanden, hatten sich Noel und er in den eher abseits gelegenen Pub verzogen. Sie befanden sich in Liverpool, wo man natürlich vor allem für die Beatles eingenommen war, aber nicht bedient zu werden wäre für einen aufsteigenden Superstar überall in Großbritannien eine überraschende Erfahrung gewesen. „Es war ein typischer englischer Pub“, erinnert sich Noel. „Voll mit Werftarbeitern, Ladenbesitzern und solchen Leuten.“
Wie er Noel später anvertraute, war Jimis erster Gedanke, dass er wegen seiner Hautfarbe diskriminiert wurde. Als Afroamerikaner, der einen Teil seines Lebens im Süden der Vereinigten Staaten verbracht hatte, wusste Jimi, wie es ist, Dienstleistungen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit verweigert zu bekommen. Von dort kannte er Rassendiskriminierung, Trinkbrunnen mit der Aufschrift „Nur für Weiße“ und andere Demütigungen. Einmal waren die Fensterscheiben seines Wohnhauses in Nashville, Tennessee, zerschossen worden, nur weil er schwarz war. Er war drei beinharte Jahre lang auf dem Chitlin’ Circuit aufgetreten – einer Reihe ganz bestimmter Kaschemmen, Eiskeller und Bars, in denen vor hauptsächlich afroamerikanischem Publikum Rhythm & Blues gespielt wurde. Allein um zu diesen Auftrittsorten zu gelangen, mussten umherreisende schwarze Musiker sorgfältig im Voraus planen, wo sie essen oder eine Toilette benutzen wollten, da diese schlichten Dinge in bestimmten Teilen des weißen Amerika Schwarzen vorenthalten wurden. Die Soullegende Solomon Burke war mit Jimi im Bus auf dem Chitlin’ Circuit unterwegs und erinnert sich, wie die Band am einzigen Restaurant einer ländlichen Kleinstadt Halt machte. Da sie wussten, dass Afroamerikaner in dem Restaurant nicht bedient wurden, schickten sie den weißen Bassisten hinein, damit er für alle Mahlzeiten zum Mitnehmen besorgte. Der weiße Musiker war nur noch ungefähr drei Meter vom Bus entfernt, als ihm eines der Essenspäckchen aus der Hand zu rutschen drohte und Jimi nach draußen eilte, um ihm zu helfen. „Die weißen Geschäftsführer des Ladens kapierten, für wen das Essen bestimmt war“, erinnert sich Burke. Hendrix und Burke sahen entsetzt, wie die Männer Äxte schwingend hinter dem Tresen hervorkamen. „Sie haben das ganze Essen genommen und auf den Boden geworfen“, erzählt Burke. „Wir haben uns nicht gewehrt, weil wir wussten, dass sie uns umgebracht hätten, und sie wären damit durchgekommen, denn wahrscheinlich war der Sheriff sowieso auf ihrer Seite.“
In England war Jimi von rassistischer Diskriminierung verschont geblieben; er hatte festgestellt, dass Klasse und Akzent die entscheidenden Gradmesser der britischen Gesellschaft darstellten. In den Staaten hatte seine ethnische Zugehörigkeit seine Karriere behindert, besonders, weil er über die akzeptierten Grenzen des Rock und R & B hinausging. In England verliehen ihm seine Hautfarbe und sein amerikanischer Akzent jedoch eher etwas Exotisches. Als afroamerikanischer Yankee war er ein unverwechselbarer Außenseiter und wurde deshalb verehrt. „Er war der erste amerikanische Schwarze, den ich je kennen gelernt habe“, erinnert sich Noel Redding. „Das allein machte ihn schon interessant.“ Sting, der 1967 als Teenager die Tournee der Jimi Hendrix Experience erlebt hatte, schrieb später, er habe bei dem Konzert „zum ersten Mal einen Schwarzen gesehen“.
Jimis zweiter Impuls an jenem Tag in dem Liverpooler Pub war, an seiner Aufmachung zu zweifeln. Er trug eine antike Militärjacke, ein Relikt aus den glorreichen Zeiten des britischen Empire. Er hatte die üppig verzierte Jacke auf einem Londoner Flohmarkt gekauft: Auf der Brust glänzten dreiundsechzig Goldknöpfe, raffinierte Goldstickereien schmückten Ärmel und Brust, und der Kragen hätte jeden Träger dandyhaft wirken lassen. „Wegen der Jacke hatte er schon mal Probleme gekriegt“, erinnert sich Kathy Etchingham, Jimis damalige Freundin. „Rentner haben gesehen, wie der wilde schwarze Mann in der Jacke die Straße entlanglief, und natürlich haben sie kapiert, dass der nicht bei den Husaren gewesen war.“ Englische Kriegsveteranen einer bestimmten Altersgruppe zögerten nicht, Jimi ihr Missfallen kundzutun, und da sie Top of the Pops nicht gesehen hatten, wussten sie auch nicht, dass sie einen Rockstar vor sich hatten. Sämtliche durch die Jacke verursachte Konflikte ließen sich jedoch in der Regel rasch lösen, wenn sich der stets sehr höfliche Jimi entschuldigte und erwähnte, er sei Soldat der One Hundred and First Airborne Division der Armee der Vereinigten Staaten gewesen. Das genügte meist, damit die alten Kameraden verstummten und ihm einen dankbaren Klaps auf die Schulter gaben. 1967 erinnerten sich in Großbritannien noch viele an die legendäre One Hundred and First, die am D-Day unerschrocken und heldenhaft mit Fallschirmen über der Normandie abgesprungen war.
Hendrix allerdings wirkte in seiner Jacke tatsächlich wie ein Held. Er war nur eins siebenundsiebzig groß, wurde aber meist für mindestens eins achtzig gehalten, da ihn sein gigantischer Afro übermenschlich groß erscheinen ließ. Seine schmale, kantige Statur, die wie ein umgekehrtes Dreieck geformt war, verstärkte diese Illusion. Er hatte schmale Hüften, eine schlanke Taille, aber unglaublich breite Schultern und Arme. Seine Finger waren ungewöhnlich lang und sehnig und hatten, wie auch sein gesamter Körper, eine satte karamellfarbene Tönung. Seine Bandkollegen nannten ihn wegen seiner Angewohnheit, die Fenster zu verhängen und tagsüber zu schlafen, scherzhaft „die Fledermaus“, aber der Spitzname passte auch auf seine Vorliebe für Capes, die das Superheldenhafte seines Äußeren unterstrichen. „Wenn wir in London die Straße entlanggingen“, erinnert sich Kathy Etchingham, „sind die Leute manchmal einfach stehen geblieben und haben ihn angestarrt, als wäre er eine Art übernatürliche Erscheinung.“ Er hatte große, mandelförmige braune Augen, die im Licht funkelten. Jimi war sofort der Liebling der britischen Journalisten, doch besonders beteten ihn die Fotografen an, denn wie ein Fotomodell hatte er die Gabe, aus jedem Blickwinkel umwerfend auszusehen. Dazu kam die Sanftheit seines Gesichtsausdrucks, durch die jedes Bild eine Geschichte zu erzählen schien. Selbst in einem an sich so kühlen Medium wie einem Zeitungsfoto strahlte Jimi eine gefährliche und exotische Sexualität aus.
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