Nur elf Monate nach Leons Geburt brachte Lucille einen weiteren Jun-gen zur Welt, dem Al den Namen Joseph Allen Hendrix gab. Al wurde auf der Geburtsurkunde als Vater eingetragen, obwohl er in seiner Autobio-grafie die Vaterschaft leugnet. Während Jimi und Leon jedoch beide groß und schlaksig gebaut waren, war Joe klein und kräftig und sah Al ähnlich wie ein Zwillingsbruder.
Joes Geburt war für die Familie kein Anlass zur Freude. Er hatte verschiedene ernsthafte Geburtsfehler, darunter auch zwei Reihen von Zähnen, was ein seltenes Phänomen ist. Er litt außerdem an einem Klumpfuß und einer Hasenscharte, und ein Bein war beträchtlich kürzer als das andere. Jimi Hendrix war in dem Winter, in dem Joe geboren wurde, sechs Jahre alt geworden, und nun hatte die Familie drei kleine Kinder zu füttern, wo sie doch schon mit nur einem Kind ums Überleben hatte kämpfen müssen. Noch schlimmer jedoch war, dass Al und Lucille von nun an unablässig darüber stritten, wer von ihnen beiden für Joes gesundheitliche Probleme verantwortlich war. Lucille gab Al die Schuld, weil er sie während ihrer Schwangerschaft gestoßen hatte. Al warf ihr die Trinkerei vor.
Je älter Joe wurde, desto deutlicher zeichnete sich ab, dass er medizinische Hilfe brauchte. Al, der die Kosten scheute, begann sich emotional von seinem Sohn und dem Rest der Familie zu distanzieren. Im Gegenzug dazu brachte Joes Bedürftigkeit die mütterlichen Instinkte in Lucille zum Vorschein, und sie überlegte, wie es gelingen könnte, Joe die Operation zu ermöglichen, die er dringend benötigte. Regelmäßig fuhren sie mit dem Bus ins Kinderkrankenhaus im Nordosten von Seattle, für den Hin- und Rückweg benötigte man damals jeweils zwei Stunden. Sie stellte fest, dass der Staat für einen Großteil der von Joe benötigten ärztlichen Versorgung aufkommen würde, doch die Familie müsste einen Teil der Kosten selbst tragen. Al lehnte ab. Er hatte in jenem Jahr seine Ausbildung zum Elektriker abgeschlossen, doch der einzige Job, den er fand, war der eines Hauswarts auf dem Pike Place Market, wo er fegte, wenn die Bauern ihre Stände abgebaut hatten.
Bis zum Juni 1949 war die Familie so weit zerrüttet, dass sie am Ende zu sein schien. Die Kinder litten unter ernährungsbedingten Mangelerscheinungen. Jimi und Leon überlebten nur, weil sie bei Nachbarn aßen, was schon bald zur täglichen Gewohnheit wurde. Al entschied, seine drei Kinder nach Kanada zu schicken, wo sie eine Zeit lang bei seiner Mutter Nora leben sollten. Jimi war mit knapp sieben Jahren als Einziger alt genug, um die emotionale Bedeutung einer weiteren Trennung von seinen Eltern zu begreifen. Großmutter Nora war in ihrer Fürsorge verlässlicher als Al oder Lucille, doch auch sie hatte ihre Macken. Sie war sehr streng, und ihre Strafen waren hart – Joe erzählte, sie habe ihn windelweich geprügelt, als er ins Bett gemacht hatte –, doch andererseits kannte sie sich mit altmodischen Heilmethoden und Kräutern aus. Jimi liebte ihre Geschichten über ihre Cherokee-Vorfahren und ihre Zeit bei den Minstrel-Shows.
Im September 1949 wurde Jimi in Vancouver eingeschult. Später erzählte er einem Interviewer, seine Großmutter habe ihn „in ein mexikanisches Jäckchen mit Quasten“ gesteckt, das sie selbst genäht hatte, und die anderen Kinder hätten ihn deshalb gehänselt. Im Oktober wurden Jimi und seine Brüder wieder zurück nach Seattle zu Lucille und Al geschickt, die sich wieder gefangen hatten. Doch es dauerte nicht lange, bis es wieder bergab ging, und im Herbst 1950, als er in die zweite Klasse der Horace Mann Elementary School kam, wohnte Jimi vorübergehend bei Delores. Im Herbst wurde Jimi acht Jahre alt, und ein weiteres Kind vergrößerte die Familie Hendrix: Kathy Ira kam sechzehn Wochen zu früh zur Welt und wog bei der Geburt nur knapp siebenhundertfünfzig Gramm. Noch schlimmer war jedoch, dass die Familie schon bald feststellen musste, dass sie blind war. Eine Zeit lang lebte Kathy mit den anderen im Haushalt, doch elf Monate nach ihrer Geburt wurde sie unter Amtsvormundschaft gestellt und in Pflege gegeben. Auch in Kathys Fall leugnete Al die Vaterschaft, obwohl sie ihm wie zuvor auch schon Joe bemerkenswert ähnlich sah. Im Oktober 1951, ein Jahr danach, wurde eine zweite Tochter, Pamela, geboren. Auch sie hatte gesundheitliche Problem, wenn auch nicht so gravierende wie Kathy. Und obwohl Al auf der Geburtsurkunde als Vater angegeben war, leugnete er auch in Pamelas Fall die Vaterschaft. Wie Kathy kam sie zu einer Pflegefamilie, allerdings in der Nachbarschaft, sodass sie ihre Familie gelegentlich sehen konnte.
Jimi besuchte ab September 1951 die dritte Klasse der Rainier Vista Elementary School. Er wohnte nun wieder mit seinen Eltern, Leon und Joe in der inzwischen viel zu engen Zweizimmerwohnung. Trotz der Familientragödie hatte Jimi Freude an Dingen, wie sie alle kleinen Jungs faszinieren: Er las Comics, liebte das Kino und zeichnete Autos. Im Sommer schrieb er seiner Großmutter Nora eine Postkarte: „Wie geht’s dir? Mir geht’s gut. Wie geht’s (meinem Cousin) und denen? Auch gut? Wir waren bei einem Picknick, und ich hab zu viel gegessen, aber es war ein gutes Picknick. Wir hatten Spaß. Piep piep. Alles Liebe! Buster.“
Schon bald gestaltete sich das Leben im Haushalt der Hendrix’ allerdings so kompliziert, dass selbst Jimi das Piepen verging. Zu diesem Zeitpunkt gab es drei Kinder: Jimi, Leon und Joe; die beiden Mädchen befanden sich bereits bei Pflegefamilien. Lucille hatte gegen den Alkoholismus zu kämpfen, ebenso Al, der wieder einmal keine feste Anstellung fand. Obwohl es bereits zahllose scheinbar unüberwindbare Probleme gab, zerbrach die Familie letztlich doch über der Frage, was mit Joe Hendrix geschehen sollte. Lucille hegte die Hoffnung, der damals dreijährige Joe könne nach seiner Beinoperation wieder bei der Familie leben. Doch Al blieb unerbittlich. Wiederholt behauptete er, er könne sich die Operation nicht leisten. Lucille hatte bereits zwei Töchter weggeben müssen und konnte die Vorstellung, jetzt auch noch Joe zu verlieren, der bereits seit drei Jahren bei ihnen lebte, nicht ertragen. Später behauptete sie, Al habe seine Entscheidung aus Gemeinheit und Geiz getroffen. „Al sagte, er wolle nicht so viel Geld in ein Kind stecken“, erinnert sich Delores, „nicht mal dann, wenn er die Kohle hätte.“
Im Spätherbst 1951, kurz nach Jimis neuntem Geburtstag, verließ Lucille Al. Al war am Boden zerstört und erzählte später, er habe sie sitzen lassen. Dennoch war dies nicht das Ende der Beziehung. Nicht einmal eine Scheidung oder der Hass, der darauf folgte, konnte der Anziehungskraft zwischen beiden etwas anhaben. Am 17. Dezember 1951 wurden sie offiziell geschieden, doch schon wenig später waren sie wieder zusammen und trennten sich ebenso rasch ein weiteres Mal. In der offiziellen Scheidungsverhandlung wurde Al das Sorgerecht für Jimi, Leon und Joe zugesprochen. Dieses Sorgerecht war jedoch eine reine Formalität auf dem Papier: Die Hendrix-Jungen wurden danach von ihrer Großmutter Clarice Jeter, Grandma Nora Hendrix in Vancouver, Tante Delores Hall und der Freundin Dorothy Harding sowie anderen aus der Nachbarschaft großgezogen, wie dies überwiegend schon der Fall war, als ihre Eltern noch verheiratet waren.
Im Sommer 1952 brachten Lucille und Al eines der traurigsten Ereignisse in der Familiengeschichte hinter sich. Da sich Al weigerte, Joes Operation mitzufinanzieren, bedeutete dies in der Konsequenz, dass auch Joe unter Amtsvormundschaft gestellt werden musste, damit ihm die nötige medizinische Versorgung garantiert war. Dazu mussten Lucille und Al auf alle elterlichen Rechte an dem dreijährigen Joe verzichten. Lucille hatte Al angefleht, es sich noch einmal anders zu überlegen, und sowohl Delores wie auch Dorothy Harding hatten angeboten, Joe zu adoptieren. Al lehnte diese Vorschläge jedoch ab, vielleicht, weil er befürchtete, sich finanziell zu verpflichten.
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