»Ganz bestimmt nicht, Sir«, entgegnete der Büttel und prüfte das mit Pechdraht umwickelte Ende seines Stocks, das dem Zwecke der amtlichen Züchtigung diente.
»Sagt Sowerberry, auch er brauche ihn nicht zu schonen. Ohne blaue Flecken wird der Junge keine Vernunft annehmen«, erklärte der Herr in der weißen Weste.
»Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern, Sir«, antwortete der Büttel. Und da sich Dreispitz und Stock inzwischen zur Zufriedenheit ihres Besitzers an ihren angestammten Plätzen befanden, begaben sich Mr. Bumble und Noah Claypole schnellstmöglich zur Werkstatt des Leichenbestatters.
Dort hatte sich die Lage keineswegs gebessert, da Sowerberry noch nicht zurückgekehrt war und Oliver weiterhin mit unverminderter Kraft gegen die Kellertür trat. Die Berichte über seine Wildheit, die Mrs. Sowerberry und Charlotte abgaben, waren derart erschreckend, dass Mr. Bumble es für ratsam hielt, erst einmal zu verhandeln, bevor er die Tür öffnete. In dieser Absicht versetzte er zum Auftakt der Tür von außen einen Tritt und rief dann, indem er den Mund ans Schlüsselloch legte, mit tiefer und dröhnender Stimme:
»Oliver!«
»Lasst mich sofort hier raus!«, schrie Oliver von drinnen.
»Erkennst du meine Stimme, Oliver?«, fragte Mr. Bumble.
»Ja«, antwortete Oliver.
»Fürchtest du sie gar nicht? Zitterst du nicht, wenn du mich hörst?«, fragte Mr. Bumble.
»Nein!«, entgegnete Oliver kühn.
Diese Antwort, die so anders war als die, welche er hervorzulocken erwartet hatte und für gewöhnlich erhielt, erschütterte Mr. Bumble über alle Maßen. Er trat vom Schlüsselloch zurück, richtete sich zu voller Größe auf und schaute die drei, die neben ihm standen, sprachlos vor Staunen an.
»Oh, wisst Ihr, Mr. Bumble, er muss verrückt geworden sein«, sagte Mrs. Sowerberry. »Kein Junge, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde es wagen, so zu Euch zu sprechen.«
»Das ist keine Verrücktheit, Madam«, entgegnete Mr. Bumble, nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens. »Das ist das Fleisch.«
»Was?«, rief Mrs. Sowerberry.
»Fleisch, Madam, das Fleisch«, sagte Bumble mit ernstem Nachdruck. »Ihr habt ihn überfüttert, Madam. Ihr habt wider die Natur Geist und Seele in ihm geweckt, was einem Menschen seiner Art nicht zuträglich ist, wie die Herren Vorstände, die allesamt lebenskluge Männer sind, Ihnen bestätigen werden, Mrs. Sowerberry. Was sollen Armenhäusler mit Geist oder Seele? Es reicht völlig, wenn wir ihnen ihre Leiber lassen. Hättet Ihr den Jungen mit Haferschleim verköstigt, Madam, wäre das nie passiert.«
»Lieber Himmel!«, rief Mrs. Sowerberry und hob die Augen fromm zur Küchendecke. »Das kommt davon, wenn man großherzig ist!«
Die Großherzigkeit Mrs. Sowerberrys gegenüber Oliver hatte darin bestanden, ihm all die schäbigen Küchenabfälle zu überlassen, die niemand mehr essen mochte, daher war also auch viel Demut und Selbstverleugnung im Spiel, als sie Mr. Bumbles schwerwiegende Anklage ohne Widerrede auf sich sitzen ließ, obwohl sie sich dieses Vergehens, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, weder in Gedanken, Wort noch Tat schuldig gemacht hatte.
»Ah«, sagte Mr. Bumble, als die Dame ihre Augen wieder senkte, »das einzige, was man meines Wissens nach jetzt tun kann, ist, ihn einen Tag oder länger im Keller zu lassen, bis der Hunger ihn schwächt, und ihn dann rauszuholen und während seiner gesamten Lehrzeit allein mit Haferschleim zu ernähren. Er stammt aus einer üblen Familie. Leicht erregbare Gemüter, Mrs. Sowerberry! Sowohl die Pflegerin als auch der Doktor haben erzählt, die Mutter habe sich bis hierher unter solchen Schwierigkeiten und Schmerzen durchgeschlagen, die jede anständige Frau schon Wochen zuvor getötet hätten.«
Als Mr. Bumbles Erörterungen so weit gediehen waren, begann Oliver, der gerade genug hören konnte, um zu verstehen, dass erneut Anspielungen auf seine Mutter gemacht wurden, wieder so ungestüm zu treten, dass alles andere übertönt wurde. In diesem Moment kehrte Sowerberry heim, und als ihm Olivers Missetat von den Damen in der Absicht, seinen Zorn zu erregen, mit vielen Übertreibungen hinterbracht worden war, sperrte er im Handumdrehen die Kellertür auf und zerrte seinen aufsässigen Lehrjungen am Kragen heraus.
Olivers Kleidung war während der Prügel, die er bezogen hatte, in Fetzen gegangen, sein Gesicht geschwollen und zerkratzt, und das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Doch die Zornesröte war noch nicht verschwunden, und als er aus seinem Verlies gezogen wurde, warf er Noah unerschrocken finstere Blicke zu und schien keineswegs eingeschüchtert.
»Na, du bist mir ja vielleicht ein sauberes Bürschchen«, sagte Sowerberry, wobei er Oliver schüttelte und ihm eine Ohrfeige verpasste.
»Er hat meine Mutter beschimpft«, entgegnete Oliver.
»Ha, und wenn schon, du undankbarer kleiner Halunke?«, sagte Mrs. Sowerberry. »Sie hat verdient, was er sagt, und Schlimmeres.«
»Hat sie nicht«, rief Oliver.
»Hat sie wohl«, sagte Mrs. Sowerberry.
»Das ist eine Lüge!«, rief Oliver.
Mrs. Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus.
Dieser Tränenstrom ließ Sowerberry keine Wahl. Hätte er auch nur einen Augenblick gezögert, Oliver strengstens zu züchtigen, dann würde er, wie es jedem lebensklugen Leser sofort klar ist, und nach allem, was wir aus bisher bekannten Fällen ehelichen Zwistes wissen, als Unmensch, als gefühlloser Gatte, als schimpfliche Kreatur, als gemeines Zerrbild eines Mannes und anderes Schmeichelhaftes mehr, zu dessen Aufzählung der Platz in diesem Kapitel nicht ausreicht, gegolten haben.
Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss man sagen, dass er, soweit es in seiner Macht – die nicht allzu weit reichte – stand, dem Jungen freundlich gesonnen war, vielleicht, weil es ihm nützte, vielleicht, weil seine Frau ihn nicht leiden konnte. Der Tränenstrom ließ ihm jedoch keinen Ausweg, also verabreichte er Oliver unverzüglich eine Tracht Prügel, die selbst Mrs. Sowerberry zufriedenstellte und die darauffolgende Anwendung von Mr. Bumbles Amtsstock eigentlich überflüssig machte. Für den Rest des Tages wurde Oliver in die hintere Küche gesperrt, in Gesellschaft einer Pumpe und eines Stückchens Brot. Am Abend schaute Mrs. Sowerberry, nachdem sie vor der Tür verschiedene Bemerkungen gemacht hatte, die dem Andenken seiner Mutter keineswegs zur Ehre gereichten, in den Verschlag und schickte ihn, unter dem Hohn und Spott von Noah und Charlotte, treppauf in seine trostlose Bettstatt.
Erst als Oliver in der Stille und dem Schweigen der düsteren Werkstatt des Sargmachers allein geblieben war, ließ er seinen Gefühlen, die durch die tagsüber erfahrene Behandlung in dem noch kindlichen Jungen verständlicherweise aufgewühlt worden waren, freien Lauf. Er hatte sich ihre Schmähungen mit verächtlicher Miene angehört und die Schläge ertragen, ohne einen Muckser von sich zu geben, denn er verspürte in seinem Herzen einen Stolz schwellen, der jeden Schrei unterdrückt haben würde, auch wenn sie ihn bei lebendigem Leibe geröstet hätten. Aber jetzt, wo niemand da war, der ihn hören oder sehen konnte, ging er auf dem Boden in die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte solche Tränen, wie sie, Gott gebe es zur Ehre unserer Natur, nur wenige so junge Menschen jemals Grund haben mögen, vor Ihm zu vergießen.
Lange Zeit verharrte Oliver reglos in dieser Haltung. Als er sich wieder erhob, war die Kerze auf dem Ständer schon weit herabgebrannt. Nachdem er sich vorsichtig umgeschaut und angespannt gelauscht hatte, schob er sachte die Riegel an der Tür zurück und blickte hinaus.
Es war eine kalte und dunkle Nacht. Die Sterne schienen den Augen des Jungen weiter von der Erde entfernt, als er es je zuvor gesehen hatte, es regte sich kein Lüftchen und die düsteren Schatten, die die Bäume auf den Boden warfen, gemahnten in ihrer Reglosigkeit an Grab und Tod. Leise schloss er die Tür wieder und setzte sich, nachdem er das schwindende Licht der Kerze dazu genutzt hatte, die wenigen Kleidungsstücke, die er besaß, in ein Bündel zu schnüren, auf eine Werkbank, um auf den Morgen zu warten.
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