Das Handwerk des Unterrichtens
Das ist ein guter Zeitpunkt, um klarzustellen, dass wir auch Lehrer sind und nicht nur übers Unterrichten schreiben und es erforschen, sondern dass wir unsere meiste Zeit in Räumen mit Gruppen von Leuten verbringen und versuchen, ihnen beim Lernen zu helfen – unser Handwerk ist das Unterrichten.
Auch uns hat das plötzliche Verschwinden des Klassenzimmers unerwartet erwischt. Wir hatten einen Frühling voller Workshops vor uns und auf einmal, an einem Tag im März, wurden sie alle abgesagt. Wir fragten uns: Sollten wir den Laden dichtmachen? Uns in Sicherheit bringen und es aussitzen? Das Unterrichten geriet in eine Krise. Und letzten Endes glauben wir, dass unsere Stärke als Gruppe in der Gruppe selbst liegt – unsere Fähigkeit, gemeinsam zu lernen. Folgendes haben wir zehn Jahre lang gemacht: zweimal pro Woche zusammen ein Video von unterrichtenden Lehrern ansehen, ihre Bewegungen und Entscheidungen bis ins kleinste Detail analysieren, um dabei so viel wie irgend möglich zu lernen. Wenn man uns fragt, was wir machen, sagen wir, wir studieren Lehrer. Könnten wir diese Fähigkeit auf virtuelle Klassenzimmer übertragen? Immerhin ist einer der wenigen Vorteile des virtuellen Klassenzimmers, dass man leicht alles aufzeichnen kann. Es gibt ein Video dazu. Könnten wir, wenn wir uns das ansehen, daraus etwas lernen?
Zwei Tage, nachdem wir das Büro zugemacht hatten und nach Hause gegangen waren, trafen wir uns – bei Zoom –, um unsere ersten Videos über Online‐Unterricht anzusehen. Die Aufzeichnungen stammten von einigen Lehrern von Vorschulklassen und ersten Klassen an einer staatlichen Schule in Brooklyn. Über Nacht war die Welt eine andere geworden und sie lächelten für die Kinder, die dringend ein freundliches Gesicht sehen mussten, und gaben ihr Bestes, um ihnen Sichtwörter oder das Lösen von Textaufgaben aus ihren Wohnzimmern oder Küchen beizubringen. Sie machten das alle gut, aber eine stach besonders hervor. Sie heißt Rachel Shin. Wir wussten alle gleich, dass hier etwas doppelt Besonderes passierte. Durch ihr Lächeln und ihre Wärme hatten wir das Gefühl, sie wäre mit uns im selben Raum. Ihre Stunde war asynchron – vorab für die Schüler aufgezeichnet, die sie dann später sahen –, aber sie war eindeutig so gestaltet, dass die Schüler aktiv mitmachten, statt nur passiv zuzusehen. Sie sagte den Schülern, sie sollten das Video anhalten, um eine Aufgabe zu lösen. Sie sollten ihr abends als Hausaufgabe die Lösung einer anderen Aufgabe per E‐Mail schicken. Den Bildschirm verschwinden lassen , Pausenpunkte , verzögerte Bewertung: Von all diesen Ideen werden wir Ihnen später berichten und jede von ihnen entstand, wie alles in diesem Buch, aus der Untersuchung der Arbeit von Lehrern wie Rachel.
Wir posteten einen kleinen Artikel auf unserem Blog darüber, was wir beobachtet hatten. Das war der erste von vielen, denn nach diesem ersten Tag vereinbarten wir, alles andere auf Eis zu legen und uns zusammen fünf Tage die Woche Videos anzusehen, um so schnell wie möglich so viel wie möglich zu lernen und die Erkenntnisse, so oft und direkt wir konnten, mit Lehrern zu teilen.
Zu diesem Zeitpunkt war ein Buch das Letzte, woran wir gedacht hätten. Ein paar Wochen später boten wir versuchsweise ein Webinar zu wichtigen Lehrprinzipien an. Es war kostenlos, aber wir begrenzten die Teilnehmerzahl, um die Wechselwirkungen, über die wir sprachen, besser veranschaulichen zu können. Innerhalb von Minuten waren alle Plätze belegt. Das war für uns ein Zeichen für den großen Bedarf, nicht so sehr für die Qualität unseres Webinars. Trotzdem verdoppelten wir unsere Bemühungen. Wir wollten einfach wertvolle Dinge teilen und gleichzeitig selbst dazulernen.
Zur gleichen Zeit tauchte ein anderes Problem auf. Uns wurde klar, dass wir bald mit allem, was wir bei unseren Workshops machten, in die Online‐Welt umziehen mussten. Wir hatten Zoom schon jahrelang für unsere Meetings und Sessions verwendet und viel darüber nachgedacht, wie eine gute Online‐Interaktion aussehen sollte. Da waren wir ziemliche Streber und hatten Protokolle geschrieben und Prozesse erfasst, um jedes Online‐Meeting so wertvoll und produktiv wie möglich zu machen. Aber mit der Technik waren wir überfordert. Zuerst wussten ein paar von uns nicht, was ein Breakout Room ist, ganz zu schweigen davon, wie man ihn benutzt. Es gab Schwierigkeiten mit dem Freigeben des Bildschirms. »Warte, welche Taste muss ich drücken?« Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, können Sie beruhigt sein.
Mit anderen Worten, während wir den Übergang zum Online‐Lernen untersuchten, übertrugen wir dann und wann auch unsere eigenen Unterrichtsmethoden. Das stellte sich als Segen heraus – wir hatten sofort Gelegenheit, die Dinge auszuprobieren, die wir in den Klassenzimmern sahen. Manches funktionierte besser als anderes. Wir entdeckten ein paar hilfreiche Tricks. Und fanden heraus, dass viele Tricks nicht funktionierten, weil sie keine wirkliche Verbesserung brachten oder zu umständlich waren. Sie umzusetzen erforderte zu viel unserer Aufmerksamkeit – die Schlüsselszene eines Romans erläutern, auf unsere Laptops starren und in den Gesichtern der Teilnehmer erkennen, ob sie uns folgen konnten. Wir kamen langsam, aber stetig voran und entschieden, dass es mehr wert sei, unsere Zeit für das Erlernen der grundlegenden Dinge zu nutzen, um sie richtig gut zu beherrschen, statt eindrucksvolle Dinge zu tun, die zu keinem Ergebnis führen.
Wir waren voll damit beschäftigt, uns darauf zu konzentrieren, und als wir einmal kurz aufschauten, stellten wir fest, dass der Traffic auf unserem Teach‐Like‐a‐Champion‐Blog (TLAC, zu Deutsch: »Unterrichte wie ein Weltmeister«) sich vervielfacht hatte. Plötzlich schrieben uns die Leute und baten uns, bei (virtuellen) Konferenzen über Online‐Unterricht zu sprechen. Wir wollten das vermeiden, da wir wussten, dass wir keine Experten sind – »Puuh, die Leute scheinen echt verzweifelt zu sein« –, aber im Rückblick war das vielleicht genau der Punkt. Wir waren wie alle anderen – also alle Lehrer – und kämpften mit dieser Herausforderung, hatten aber das Glück, viele Videos anschauen und mit einem Haufen anderer Lehrernerds auseinandernehmen zu können. Wir können Ihnen vielleicht keine Theorie zum Online‐Lernen vermitteln, aber wir können Videos von hervorragenden Lehrern nennen, die wir gemeinsam untersuchen können. Als ein Freund aus einem Verlag anrief und sagte: »Ihr solltet wirklich über ein Buch nachdenken. Das neue Schuljahr kommt schnell«, lachten wir erst. Dann weinten wir. (Wir hatten wirklich viel um die Ohren.) Und dann legten wir los.
Obwohl wir so viel über unsere Technikprobleme gesprochen haben und darüber, wie sehr wir das Klassenzimmer vermissen, und die Technologie und das Online‐Lernen schlechtmachen (wir hören damit jetzt auf, versprochen), glauben wir wirklich, dass wir – wir alle – sehr schnell viel besser darin werden können. Wenn nichts sonst, zeigen uns das unsere eigenen Erfahrungen durch das Untersuchen und Anwenden dieser Ideen und wir versuchen das ganze Buch hindurch, einige dieser Erfahrungen, wo wir erst alles falsch und dann richtig machten, zu teilen, in der Hoffnung, dass Sie das motiviert und optimistisch stimmt. Es ist machbar – also muss es gemacht werden.
Nachdem all das gesagt ist, hier nun ein paar Infos zu dem, was kommt.
Kapitel 1, von Hannah Solomon and Beth Verrilli, beschreibt eine wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Typen von Online‐Unterricht, dem synchronen und dem asynchronen. Wir erläutern einige der jeweiligen Stärken und Grenzen und wie man mit ihnen umgeht. Wir besprechen auch, wie sich hier Synergien bilden lassen – wie eine gute Unterrichtsstunde Elemente von beiden Typen beinhalten könnte.
Kapitel 2, von Jen Rugani und Kevin Grijalva, erläutert das Verschwindenlassen des Bildschirms, was bedeutet, den Schülern trotz Entfernung das Gefühl zu geben, mit ihnen verbunden zu sein. Beziehungen aufzubauen und zu pflegen ist ein wichtiger Teil davon, aber es geht um mehr als das. Es geht darum, diese Dinge durch das Wesen und das Handwerk des Unterrichtens zu tun – den Schülern durch Lernen das Gefühl zu geben, Teil von etwas zu sein.
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