1 ...7 8 9 11 12 13 ...32 Die Erinnerung an unser kleines Haus ist für mich mit den verschiedensten Dingen verbunden. Dass es so beengt war, wir uns alle um Mutter scharten und uns ständig gegenseitig auf die Füße traten, machte es nicht gerade besonders gemütlich, aber es war ein Spiegel dessen, was meine Eltern ständig predigten: Zusammenhalten und Zusammenrücken. Ein so enger Verbund schafft Loyalität. Und aus Loyalität erwächst Stärke. Das wurde uns eingebläut. Deswegen wurden wir zu einer Einheit, die nur geschlossen vorging. Das konnten in Gary die wenigsten Familien von sich behaupten. Gary war eine Arbeiterstadt, die 1906 mit der Muskelkraft afroamerikanischer Einwanderer errichtet worden war, die auf den Sanddünen und dem Buschland im Nordwesten von Indiana einen wichtigen Standort der Stahlindustrie aus dem Boden stampften.
Die alten Männer erzählten gern, dass die Arbeitsmoral damals von Blut, Schweiß und harter Plackerei bestimmt wurde. Die Männer in Gary hatten keine Angst davor, Überstunden zu machen und sich abzurackern. „Wer wirklich hart arbeitet, der kommt auch voran“, sagte Joseph. „Man bekommt zurück, was man einzahlt.“ In den Augen seiner Vorväter hatte man etwas „geleistet“, wenn man eine gut bezahlte Arbeit und ein eigenes Haus vorweisen konnte, aber er wollte immer, dass wir einmal höhere Ziele verwirklichten als er. Niemand von uns bekam den typischen Spruch vieler Väter zu hören: „Hör auf mit der Tagträumerei und such dir einen richtigen Job!“ Nein. Unser Vater wollte, dass wir einen Traum hatten und dass wir ihn in die Tat umsetzten.
Etwa 90 Prozent der Bevölkerung von Gary und Umgebung fanden Arbeit bei Inland Steel, kurz „die Fabrik“ genannt, die eine halbe Autostunde entfernt im angrenzenden East Chicago lag. Joseph war dort Kranführer und transportierte Stahlträger von einem Ort zum anderen. Es war eine harte Arbeit in Schichten von acht oder zehn Stunden. Wenn er oben in seiner verglasten Kanzel saß, gingen seine Gedanken oft zurück zu seiner Kindheit in Durmott, einem Ort südlich von Little Rock in Arkansas. Als junger Mann hatte er sein Taschengeld für Kinobesuche ausgegeben und sich Stummfilme angesehen, und er hatte sich stets gesagt, dass er eines Tages der erste Schwarze sein werde, der in einem solchen Streifen auftrat. Schichtarbeit in der Fabrik kam diesem Traum nicht gerade nahe. Es war Sklavenarbeit, ganz in der Tradition dessen, was schwarze Männer vor ihm schon immer hatten leisten müssen. „Es geht darum, aufzusteigen, nicht darum, unten zu bleiben“, pflegte er zu sagen.
Nach seiner Ankunft in Indiana, noch bevor er Mutter kennenlernte, hatte er bei der Eisenbahn gearbeitet. Dann bekam er einen Job in einer Eisengießerei und bediente einen Dampfhammer in der Hitze eines großen Hochofens. „Hitze? Da sind Männer umgekippt“, erzählte er. „Wir arbeiteten immer nur ganz kurz, zehn Minuten lang, und dann mussten wir da wieder raus, weil die Böden glühend heiß waren.“ Damals bestand er nur aus Haut und Knochen. Er konnte essen, so viel er wollte, und nahm doch nicht zu, weil die Arbeit so kräftezehrend war. Ein wenig lag das allerdings wohl auch an seinem Stoffwechsel, den die meisten von uns von ihm geerbt haben, vor allem Michael. Die schlimmste Arbeit, die Joseph je übernahm, bestand darin, Asche aus dem Hochofen zu kehren. Hier war seine hagere Gestalt besonders nützlich, weil er dabei an einem Seil in einem Eimer einen Abzug hinuntergelassen wurde, der lediglich einen Meter Durchmesser hatte. Verglichen mit solchen Geschichten kam mir der Job eines Kranführers geradezu glamourös vor.
Es soll jedenfalls niemand sagen, Joseph wisse nicht, was harte Arbeit war. Solche Jobs konnten nur Männer verrichten, die innerlich gefestigt und wirklich stark waren, und er hatte sich die Finger blutig gearbeitet, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich glaube, deswegen ist ihm „Respekt“ so wichtig. In seinen jungen Jahren hatte er lange in untergeordneten Positionen gearbeitet, und seine Wurzeln lagen ebenso wie bei Mutter in der Sklaverei, aber er hatte sich Respekt verdient, und daher erwartete er ihn auch von seiner Familie. Im Gegenzug war er sich der eigenen Verantwortung bewusst. Je mehr Kinder er hatte, desto mehr Überstunden machte er, um zusätzlich Geld zu verdienen. Als Michael geboren wurde, hatte er einen zweiten Job angenommen und übernahm noch ein paar Schichten in einer Konservenfabrik.
Uns Kindern war bewusst, dass Geld immer knapp war. Unsere Eltern brachten zusammen um die 75 Dollar nach Hause. Sie waren zu stolz, um Sozialhilfe zu beantragen, und daher räumten Tito und ich beispielsweise im Winter den Schnee von den Einfahrten unserer Nachbarn, um zusätzlich Geld zu verdienen. Dass Joseph seine Lohntüte bekommen hatte, merkten wir immer daran, dass ein frischer Laib Brot und ein Päckchen Frühstücksfleisch auf der Arbeitsfläche in der Küche lagen. Mehr als einmal wurde Joseph jedoch auch entlassen und später wieder eingestellt. In der Zwischenzeit half er bei der Kartoffelernte. Wir wussten immer, wenn im Stahlwerk wieder einmal Schluss gewesen war, denn dann kamen nur Kartoffeln auf den Tisch – gebacken, gekocht, geröstet oder als Brei.
Inland Steel war für Generationen von Familien die große Hoffnung. In Gary sagte man, dass man im Leben nur drei Möglichkeiten besaß: Fabrik, Knast oder Tod. Die letzten beiden bezogen sich auf die Gang-Kriminalität, die Schattenseite unserer Gemeinschaft. Doch ganz egal, welche der drei Möglichkeiten das Schicksal für uns vorgesehen hatte, Joseph war fest entschlossen, den Lauf der Dinge zu verändern. Jede Stunde, die er arbeitete, dachte er an nichts anderes. Unsere Flucht war auch die seine und die von Mutter.
Joseph stammte aus einer Familie mit sechs Kindern, vier Jungen und zwei Mädchen. Er war der Älteste und stand besonders der Schwester nahe, die nach ihm zur Welt gekommen war, Verna Mae. Unsere Schwester Rebbie erinnere ihn sehr an sie, sagte er immer – pflichtbewusst, freundlich, eine richtige kleine Hausfrau, die trotz ihrer jungen Jahre schon sehr reif und erwachsen wirkte. Joseph fand es wundervoll, wie sich Verna Mae um den Haushalt und die anderen Kinder kümmerte, und seine liebste Erinnerung war, wie sie im Alter von sieben Jahren beim Licht einer Öllampe saß und den Brüdern Lawrence, Luther und Timothy eine Gutenachtgeschichte vorlas. Dann wurde sie krank, und Joseph konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Die Ärzte fanden nicht einmal heraus, woran sie litt. Verna Mae selbst verbreitete noch vom Krankenbett aus Optimismus. „Alles ist gut. Ich werde wieder gesund.“ Aber Joseph musste von der Tür aus mit ansehen, wie es ihr immer schlechter ging, während die Erwachsenen um ihr Bett herumstanden. Dann starb sie. Joseph weinte tagelang und konnte diesen Verlust nie verwinden. Soweit ich das verstanden habe, war es das letzte Mal, dass er eine Träne vergoss: Er war elf Jahre alt.
Als selbsternannte Weicheier fanden Michael und ich es immer schrecklich, dass unser Vater so hart war. Keiner von uns kann sich daran erinnern, dass er sich je Verletzlichkeit anmerken ließ. Wenn wir als Kinder weinten, auch, nachdem er uns gezüchtigt hatte, schimpfte er mit uns: „Wieso heult ihr denn?“
Joseph verbrachte seine prägenden Jugendjahre damit, um seine Schwester zu trauern. Bei ihrer Beerdigung, als er hinter dem Pferdewagen mit dem Sarg herging, schwor er, dass er nie wieder ein Grab sehen wolle. Dieser große Verlust in seinem Leben schloss all seine Emotionen ein, und Joseph hielt Wort: Er ging nie wieder auf eine Beerdigung. Bis zum Jahr 2009.
Während seiner Schulzeit hatte Joseph Angst vor einer Lehrerin. Er war besonders angehalten, Respekt vor den Lehrern zu haben, weil sein Vater Direktor der örtlichen High School war und an strenge Disziplin durch körperliche Züchtigung glaubte. Die furchteinflößende Frau machte Joseph offenbar so viel Angst, dass er schon zu zittern begann, wenn sie nur seinen Namen aufrief. Einmal, so wurde uns erzählt, sollte er vor die Klasse treten und vorlesen, was an der Tafel stand. Zwar wusste er genau, welche Worte es waren, aber die Angst verschlug ihm die Sprache. Die Lehrerin fragte ihn ein zweites Mal. Als er wieder keine Antwort gab, folgte die Strafe auf dem Fuße, in Form eines hölzernen Bretts, das er auf den nackten Hintern bekam. Das Ding hatte noch dazu Löcher, damit es bei jedem Schlag auch richtig zog. Während sie ihn bestrafte, sagte sie ihm auch, wieso er die Prügel bekam: Er hatte ihr nicht gehorcht, als er nicht laut lesen konnte. Zwar hasste er sie dafür, aber er respektierte sie auch. „Aus diesem Grund hörte ich ihr zu und gab immer mein Bestes“, sagte er.
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