Ganz in der Nähe der Via Krupp lag die Villa Tragara alias »Villa Allers«. Der Maler hatte sie Anfang der 1890er Jahre bauen lassen, bezahlt vom Verkaufserlös seiner Buchillustrationen und vor allem seiner zur damaligen Zeit viel beachteten Mappen mit Zeichnungen. Was die Architektur seiner Villa anging, bediente er sich des traditionellen Capreser Formenkanons und stattete seine Veranda mit weinüberwucherten Pergolas und Säulenreihen aus. Und mit einer Steinbank, deren Sitzfläche auf weiß verputzten Rundbögen ruhte, die an den »Arco Naturale« erinnerten, jenen wenn auch nicht weißen Klippenrundbogen, der unten mit nassen Füßen vor der Küste steht, gleich vis-a-vis der Villa, im leuchtend blauen Wasser draußen.
Wenn er nicht gerade auf einer seiner vielen Reisen war, saß Allers mit Vorliebe auf eben dieser Bank, eine Karaffe Rotwein und eine Schale Früchte auf einem wilhelminisch verschnörkelten Tischlein daneben, umarmte seine Plauze und blickte hinaus aufs Meer, das unten gegen die Steilklippen brandete und sich in weiter Ferne an den Himmel schmiegte.
Weiß ich nicht, ob man sich auf meinen Informanten verlassen kann, aber dass der dicke Teutone die Tage nach dieser Nacht der tödlichen Turbulenzen nutzte, um die Szenen des dionysisch ausgeuferten Spektakels in einem ganzen Stapel von Zeichnungen festzuhalten, das trifft mit Sicherheit zu. Selbstverständlich in einem geheimen Skizzenbuch, das Wochen später auf mindestens ebenso geheimen Wegen in meine Finger geraten sollte. Zu treuen, zu äußerst treuen Händen, wie sich versteht. Nur so viel: Es handelt sich um Zeichnungen, die kein Blatt vor die Augen nehmen. Das ganze schwül ambrosische Ambiente, die mandolinenplinkernde Combo, die pokulierenden Jünglinge in ihrer ganzen Schönheit, nackt wie Gott sie geschaffen hatte. Und sogar die Szene, als Krupp und dieser Giovanni dem langen Gernot und seiner kurzen Wurzel so zusetzten. In allen, ich sage: in allen Einzelheiten! Auch die Aktzeichnungen, die er von dem ein oder andern Fischerburschen anfertigte, waren, was die Offenherzigkeit en detail angeht, nicht grade zimperlich. Er setzte den Jungs Lorbeerkränze auf, postierte sie malerisch auf ein Mäuerchen vor fleischiger Flora und ließ ihre ohnehin spärlichen Gewänder fallen. Oder er hieß einen noch mal die Grottenkutte anziehn, gab einem andern Lanzen und Säbel mit üppigen Knäufen in die Hand. So soff Allers sich ein ums andre Mal satt an den Eindrücken, die diese Nacht der Nächte bei ihm hinterlassen hatte.
In eben jenen Tagen machten auf Capri die wüstesten Gerüchte die Runde über das, was sich in der Bruder-Glücklich-Grotte so alles zugetragen haben mochte. Gerüchte, die hartnäckig behaupteten, der wohlbeleibte deutsche Zeichner wär unter den höchst zweifelhaften Gästen gewesen und habe bei all den sündigen Umtrieben kräftig mitgemischt. Wo diese Meldungen ihren Ursprung nahmen und wie es ihnen letztlich gelang, bis in Allers’ Refugium vorzudringen, das kann ich dir auch nicht sagen. Jedenfalls stieg ihm der Dampf der Gerüchteküche in die Nase. Und – was macht er? Erst mal natürlich mit großer Geste bestreiten, überhaupt dort gewesen zu sein. Und dann, als das beim besten Willen nicht mehr zu halten war, die Festivitäten aufs Niveau eines ganz normalen Banketts mit Meeresfrüchten runterspielen.
Je mehr Christian Wilhelm Allers versuchte, sich gegen die Anwürfe zur Wehr zu setzen, desto mehr nahmen sie an pikanter Schärfe zu. Bis sie sich schließlich zu der Behauptung aufgeschaukelt hatten, der Zeichner aus Germania habe sich nicht nur mit seinesgleichen sündig amüsiert, sondern auch mit Knaben, die keineswegs dreimal sieben Jahre alt waren. Und keine Frage, der Maler muss ganz genau gewusst haben, was das bedeutete.
Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, als ich endlich unten im Keller meines Essener Häuschens in der Dunkelkammer stand. Mein Zufluchtsort, wenn um mich rum die Luft brannte! Ich plätscherte mit der Fotoplatte in der Entwicklerlauge und war gespannt wie ’n Flitzebogen, was da wohl ans Tageslicht kommen würde. Irgendwann allerdings, ich hab keine Ahnung, wie lang ich schon gebannt auf die Platte in ihrer Brühe da starrte, irgendwann schlug die erholsame Ruhe in fiebrige Ungeduld um. Die übliche Zeitspanne war schon zweimal abgelaufen, die Entwicklung musste längst komplettamente vollzogen sein, aber nichts tat sich. »Himmel noch mal, komm schon!«, murmelte ich und gab der Platte noch mal einen Schubs, damit die Lauge von allen Seiten dagegenschwappen und ihre Arbeit endlich verrichten würde. Dann wartete ich noch mal eine halbe Ewigkeit. »Verdammt noch mal«, entfuhr es mir schließlich, »da ist nichts drauf! Kein Furz ist da drauf.« Ich kippte noch einen ordentlichen Schluck frischen Entwickler nach, ließ ihn die Platte noch mal umspülen, zigmal. Und noch mal.
Irgendwann dann packte ich mir mit der von der Entwicklertunke schwammig aufgedunsenen Hand an die Stirn. »Da ist nichts drauf. Schwarz, zum Deibel, ist das schwarz! Schwarz wie ’ne Fotoplatte nur sein kann. Und bleibt schwarz. Also hat sie doch Licht abbekommen, die Platte! Doch ’n Riss im Gehäuse beim Sturz, vielleicht. Oder das Dingen hat einfach zu lang in der Sonne gelegen auf dem elend langsamen Fischkutter. Jedenfalls der olle Krupp, wie er sich da mit seinen Capri-Jungs tummelt: nichts, absolut nichts von zu sehn.«
Ich ließ mich auf meinen Schemel plumpsen, oder besser gesagt: dahin, wo ich den Schemel vermutete. War aber kein Schemel zur Stelle. Also krachte ich rücklings mit lautem Kladderadatsch auf den Boden und rammte mit dem Steißbein gegen den Fünfzehn-Liter-Kübel mit Fixierbrühe. Egal. Schmerz spürte ich mit diesem Kreisel im Kopf sowieso nicht. Ich kauerte mich einfach auf die kalten Fliesen und sackte in mich zusammen. »Himmels willen, in’ Arsch gekniffen! Nichts da mit dem Foto, das ich der Krupp großkotzig angekündigt hab. Niente. Kein Bild, kein Beweis, kein Geld.«
Dann plötzlich, wie vom Blitz getroffen, sprang ich auf und hörte mich laut rufen: »Und die andern Platten?« Und ich zog eine weitere aus ihrem Holzschuber, legte sie in die Brühe und schaukelte sie hin und her, so gleichmäßig, wie’s mir in meiner Aufregung gegeben war. »Jau, da ist was drauf. Irgendso ’n Idiotenfoto. Klar, die Platte ist heil geblieben! Ausgelöst, als die Trottel über mich herfallen und mir die Kamera wegreißen wollen, völlig schiefe Perspekt... he, warte mal!«, schrie ich. Ich weiß, ich weiß, bisschen seltsam: Selbstgespräche. Zumal für so ’n jungen Kerl, wie ich damals war. Aber hier unten hörte mich ja keiner. »Warte mal! Dieser Gigolo, der kleine schwule Caprifischer, Giovanni oder wie der hieß – das ist ja genau der Augenblick, wo dem einer mit dem Messer ans Fell geht – da ist, das ist doch, kann man genau erkennen: wie dem wer und wer dem das Messer in die Brust ... – Verdammt und zugenäht!«
Kannst dir vorstellen: Ich war wie vor ’n Kopf gehauen! Blieb bloß noch die Frage, wann der günstigste Augenblick gekommen sein würde, um mit der Auflösung rauszurücken. Das Finale Furioso der Tragödie muss schließlich wohl gesetzt sein, wenn’s eine einigermaßen erbauliche kathartische Wirkung erzielen soll.
»Es gibt für die ungeheuerlichen Entgleisungen meines Mannes hieb- und stichfeste Beweise, Eure Majestät. Er ist von Sinnen!« Margarethe Krupp stand noch auf der Schwelle des Audienzsaals, wie mir einer meiner Informanten bei Hofe zutrug – ob du’s mir nun glaubst oder nicht, es war die Zeit damals, wo die ganze Welt mit Spitzeln gespickt war, man musste bloß das Portemonnaie ’n bisschen locker sitzen haben; außerdem, schließlich war’s ja nicht mein Geld –, Margarethe also stand auf der Schwelle des Audienzsaals und war, nachdem sie den Kaiser in einem der pompösen Sessel ausgemacht und das Begrüßungszeremoniell im Eilverfahren abgewickelt hatte, ohne weitere Umschweife zur Sache gekommen. »Ich brauche Euch nicht zu versichern, welch schwerer Angang es für mich ist, solche Anschuldigungen in den Raum zu stellen.«
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