Seine Erfahrungen flossen in die Musik ein und verliehen ihr eine dunkle Seite, die Vorstadtaußenseiter auf der ganzen Welt ansprach, aber auch Gahans Wandlung vom hohlen, ausgepowerten Junkie zu dem Mann, der er heute ist, wurde für alle, die sich für die Band interessierten, zu einer neuerlichen Quelle der Inspiration. Für ihn selbst spielte seine Frau Jennifer, die als Schauspielerin und Drehbuchautorin tätig ist, eine entscheidende Rolle dabei, dass er seit neun Jahren drogenfrei lebt – „Jennifer hat etwas an sich, das in mir ein Licht angezündet hat“. Allerdings bewies auch er selbst äußerste Entschlossenheit und Stärke dabei, mit seiner so schmerzvollen Vergangenheit abzuschließen.
Dass es Gahan gelang, die Hölle auf Erden zu überstehen, ohne sich selbst darin zu verlieren, spiegelt einen Optimismus wider, der von jeher ein integraler Bestandteil der Musik von Depeche Mode gewesen ist. Die Band bedeutet ihren Fans so viel, weil die Songs eine höchst sensible, seelenvolle Kraft besitzen, die Licht und Zuflucht verspricht – nicht nur in tragischen Situationen, sondern auch im ganz normalen grauen Alltag. Martin Gore mag ein eher unauffälliger, ruhiger Zeitgenosse sein, aber er lässt seine Gefühle in seine Musik mit einfließen und ist so zu einem der größten aktuellen Songwriter der Welt geworden. Von Black Celebration aus dem Jahr 1986 bis zum Album Playing The Angel hat er Songs von einer Schönheit und Qualität erdacht, wie sie von keiner anderen international erfolgreichen Band – Größen wie R.E.M. und U2 eingeschlossen – vorgelegt wurden. Vergleichsweise unbekannte Triumphe wie „The Things You Said“ (Music For The Masses), „Clean“ (Violator), „Goodnight Lovers“ (Exciter) oder die ergreifende Melodie von „Here Is The House“ (Black Celebration) sind wie Konfetti über die Depeche-Mode-Alben verstreut. Darüber sollte jedoch das unvergleichliche Pop-Feeling von Vince Clarke nicht vergessen werden, das frühe Highlights wie „Just Can’t Get Enough“ prägte, ebenso wenig wie Dave Gahans vielversprechende Werke „Suffer Well“ und „Nothing’s Impossible“ auf Playing The Angel.
Die leidenschaftliche Begeisterung ihrer Anhängerschar erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Songs an sich, sondern wird auch dadurch angefacht, wie Depeche Mode elektronische Elemente einsetzen, die oft gerade angesagten Trends komplett entgegenlaufen. Zunächst waren Daniel Miller und Alan Wilder für die innovative Einbindung analoger Technik verantwortlich, die dann während der Achtziger allmählich durch das modernste Sampling abgelöst wurde; als Grundregel galt, dass kein Geräusch zweimal verwendet werden durfte. So entwickelten sich alle möglichen bizarren Ideen, wie das Gelächter, das in einem Flugzeug aufgenommen wurde (im Refrain von „People Are People“), oder der Loop mit Daniel Millers Ausruf „Horse!“ („Fly On The Windscreen“). Seit Mitte der Achtzigerjahre haben sie mit ihren Synthesizern immer stärker Blues, Rock, Glam, Country, Gothic und Gospel miteinander verquickt, und auch nach fünfundzwanzig Karrierejahren versuchen sie sich immer noch an Ideen, an die sich sonst niemand heranwagt. Es wäre sicher spannend, die Melodien einmal auszublenden und sich auf die Sounds zu konzentrieren, indem man sich eine Zusammenstellung ihrer instrumentalen B-Seiten zu Gemüte führte, wie „Oberkorn (It’s A Small Town)“ und „Agent Orange“: Eine solche Compilation würde dem Hörer die intelligente Herangehensweise vergegenwärtigen, mit der die Band – vorwärts gerichtet, aber nicht futuristisch – die Technik einsetzt.
Es dauerte lange, aber seit Ende der Achtziger wurden Depeche Mode ganz allmählich zu einem großen Einfluss auf andere Musiker, beispielsweise auf die Smashing Pumpkins, Nine Inch Nails und die Deftones in den Neunzigern, aktuell auch auf The Faint, Interpol, The Killers, White Rose Movement (die bei ihren DJ-Sets gern Songs wie „Photographic“ oder „Any Second Now“ spielen) oder Ladytron. Deren Gründungsmitglied Daniel Hunt sagte gegenüber der Zeitschrift Q: „Depeche Mode gehören nicht nur zu meinen Lieblingsbands, sie verkörperten vor allem immer eine völlig andere Einstellung dazu, wie Musik aus dem Alternative-Bereich gemacht werden sollte.“ Im einundzwanzigsten Jahrhundert wurden Songs von Depeche Mode unter anderem von Künstlern wie Tori Amos („Enjoy The Silence“) und Placebo („I Feel You“) aufgenommen, und sowohl Marilyn Manson als auch Johnny Cash spielten eigene Versionen von „Personal Jesus“ ein.
Die langjährige Zusammenarbeit von Depeche Mode mit ihrem „Visual Director“ Anton Corbijn hat entscheidend zu ihrem konstanten Erfolg beigetragen. Corbijn machte aus den linkisch wirkenden Metallklopfern geheimnisvolle, schwarz gekleidete Gestalten, die in absurden, atmosphärischen und oft auch sehr lustigen Promoclips zu sehen waren, umgeben von vielen Autos (beispielsweise ein äußerst ernst dreinblickender Dave Gahan in einem Kabinenroller), schönen Frauen, seltsamen Vogelwesen, Zwergen und einem Schaukelpferd, auf dem Andy Fletcher im Cowboykostüm thronte. Die „Krönung“ war tatsächlich der einsame, von Gahan gespielte König aus „Enjoy The Silence“, der mit einem Liegestuhl unter dem Arm durch weite, menschenleere Landschaften wanderte. Corbijn entwarf auch häufig die Bühnendekoration und die Plattenhüllen, obwohl das vermutlich beeindruckendste Cover ihrer Karriere das Bild der drei Megafone in der Wüste ist, das Martyn Atkins für Music For The Masses schuf.
Letztlich liegt aber wohl die größte Faszination bei jeder erfolgreichen Band in der Chemie, die zwischen den einzelnen Musikern besteht. Depeche Mode haben ein recht einzigartiges Bandgefüge, da sie ein Mitglied an Bord haben, das sich musikalisch seit Jahren kaum noch eingebracht hat – Andrew Fletcher. Sie leben nicht einmal mehr in derselben Gegend: „Fletch“ wohnt in London, Gore in Santa Barbara (er übersiedelte dorthin, nachdem in sein Haus in Harpenden eingebrochen worden war – ein Erlebnis, das umso beängstigender war, als er und seine Familie dort waren, als es passierte), und Gahan zog von L. A. nach New York. Darin liegt zudem das zentrale Anliegen dieses Buchs, denn ich habe versucht, die persönlichen und musikalischen Beziehungen zwischen Martin Gore, Dave Gahan, Andrew Fletcher, Alan Wilder, Vince Clarke und ihrem „Mentor“ Daniel Miller aufzuzeigen, der über die Jahre einen entscheidenden Einfluss auf die Band gehabt hat.
Die fragile, unausgesprochene Bindung zwischen Gore als hauptsächlichem Songwriter und dem Sänger Dave Gahan liegt vielen ihrer besten Songs zugrunde. Dennoch ist Fletchers Rolle, auch wenn er zur Musik nichts beiträgt, äußerst wichtig, denn er fungiert als eine Art Schutzschild für Gore, der Konflikte scheut und sich nicht auf direktem Weg mit Gahan auseinandersetzen könnte – ebenso wenig wie mit Alan Wilder, der immerhin dreizehn Jahre lang zur Band gehörte. Alan und Daniel verschafften mir beide wesentliche Einblicke in das Innenleben von Depeche Mode. Darüber hinaus möchte ich „Fletch“ für jene Abende danken, an denen er mein lückenhaftes Wissen ergänzte, und Martin dafür, dass er mir lange Faxe voller Fragen beantwortete. Beide waren äußerst hilfreich bei der Überprüfung von Fakten und überraschten mich zudem mit einigen „inoffiziellen“ Enthüllungen. Auch danke ich Ben Hillier, Knox Chandler, Dave McCracken und Ken Thomas, die mir bei der Überarbeitung zur Seite standen und etwas Licht auf die jüngsten Aktivitäten der Band warfen, vor allem, was Bens Arbeit als Produzent von Playing The Angel betrifft. Zudem sprach ich kürzlich mit The Killers, Ladytron, The Faint und The Bravery, allesamt Depeche-Mode-Fans, anlässlich einer Sonderausgabe des Magazins Q, Depeche Mode & the Story of Electro-Pop, die im Januar 2005 erschien (und noch über den Shop auf www.q4music.com erhältlich ist).
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