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13. Juli 2018, im Waldgebiet
Im Morgengrauen war Förster Hubert Strunz aufgebrochen, um einer höchst unangenehmen Pflicht nachzukommen. Ihm und seinen drei Gehilfen fiel die Aufgabe zu, im gesamten Brandgebiet eine grobe Bestandsaufnahme zu machen. Die Verwaltung des Nationalparks hatte ihm junge Ranger zur Seite gestellt. Es galt herauszufinden, wie schlimm die Schäden ausfielen, wieviel Wald vernichtet wurde und ob es außer Rehen, Eichhörnchen, Wildschweinen und Hasen weitere Opfer zu beklagen gab.
Sie hatten die zu begehende Fläche in vier Bereiche aufgeteilt, wobei ihm der Größte zufiel. Er hängte sich seine Spiegelreflexkamera um, damit er die dokumentierte Schadensbilanz hinterher mit Bildern untermauern könnte, nahm seinen Beagle an die Leine und trat am Obersten Hangweg, wo er den dunkelgrünen Jeep abgestellt hatte, in den milchigen Morgendunst.
Oh Mann … ich wollte, ich wäre für sowas nicht zuständig.
Der Brandgeruch war immer noch präsent. Ihm graute bei der Vorstellung, dass er bis zum Abend etliche Kilometer zurückzulegen hatte. Strunz liebte den Wald über alles. Ihm kamen angesichts der allgegenwärtigen Zerstörungen die Tränen, kaum dass er aus seinem Fahrzeug gestiegen war.
Verschwunden war das saftige Grün und mit ihm die würzigmoosige Waldluft, die er normalerweise so sehr schätzte.
Düstere Gedanken bemächtigten sich seines Gemüts.
Leider war dies nicht das erste Mal, dass er in seinem Waldgebiet mit einem solchen Desaster konfrontiert war. Etwas weiter westlich, zwischen den Ortschaften Elend und Braunlage, waren im April 2011 durch ein Feuer um die zweieinhalb Hektar Waldund Wiesenflächen vernichtet worden. Genauso wie dieses Mal hatte es den Einsatzkräften an Löschwasser gemangelt.
Natürlich, die Natur würde sich mit der Zeit wieder erholen. Allerdings war alleine schon wegen der weltweiten Klimaerwärmung davon auszugehen, dass derartige Ereignisse künftig häufiger auftraten, selbst ohne jegliche Fremdeinwirkung. Vermutlich wären die herrlichen Wälder Nordeuropas wegen der anhaltenden Trockenperioden bald in ihrer Gesamtheit bedroht.
Er marschierte ein Stück den Weg entlang, bis er in Höhe des Wormsgrabens ein Stück querfeldein lief und auf einen anderen Forstweg traf. Diesem folgte er anschließend in westlicher Richtung. Sein betagter Hund Henry ging heute ordentlich bei Fuß, anstatt – wie sonst immer – ungeduldig an der Leine zu zerren. Die totale Veränderung seiner gewohnten Umgebung war wohl auch ihm unheimlich.
Immer wieder blieb Strunz seufzend stehen, fotografierte und fragte sich, wie weit es noch bis zum Steinbruch am Knaupsholz sein mochte. Ihm fehlten wohlbekannte Landmarken zur Orientierung. Die schöne, völlig gleichmäßig gewachsene Tanne am Wegrand, die verwitterte Holzbank neben dem Weg, auf deren Lehne Liebespaare Schwüre und Herzchen eingeritzt hatten … all dies und noch viel mehr war ein Raub der gefräßigen Flammen geworden.
Verbrannte Erde, soweit man schauen konnte.
Er hätte das gewissenlose Arschloch, das für den verheerenden Waldbrand verantwortlich war, zweifellos mit eigenen Händen – und ohne Skrupel – erwürgen können. Unter den Feuerwehren herrschte Einigkeit, dass es sich bei der Ursache nur um fortgesetzte Brandstiftung handeln konnte.
Vom Knaupsholz aus gehe ich dann im Zickzack Richtung Norden bis zur Stempelstelle 17 der ›Harzer Wandernadel‹, dem Trudenstein und von dort aus steige ich zum Hohnekopf hinauf. Wird ganz schön anstrengend werden. Mal sehen, wie viel ich heute noch schaffe, die Landschaft ist hier ziemlich steil und unwegsam. Morgen wäre dann wahrscheinlich die Gegend um die Hohneklippen dran, bevor ich mich, kreuz und quer durchs Vogelschutzgebiet, nach Schierke durchschlage.
Und zum Schluss muss ich noch bis zum Auto zurück. Wie sollte ich da jeden Quadratzentimeter nach irgendwelchen Auffälligkeiten absuchen, die sich hernach der werte Brandermittler genauer ansehen kann? Das ist schier unmöglich, eine Sisyphos-Aufgabe , grübelte der Förster entmutigt.
Wie zum Hohn schien nach der Auflösung des Morgennebels die Sommersonne heiß auf geschwärzte Baumskelette, auf graue Aschefelder und verkohlte Tierkadaver. Alle paar Minuten bellte sich Henry schier die Seele aus dem Leib, meldete seinem Herrn ein weiteres gut durchgebratenes Opfer. Man konnte manchmal kaum mehr erkennen, worum es sich einst gehandelt hatte.
Er tätschelte dem aufgeregten Hund beruhigend den Hals.
»Ist ja schon gut, mein Alter, AUS! Wenn du weiterhin wegen jedem toten Hasen anschlägst, bist du heute Abend heiser.«
Die armen Tiere, sie hatten offenbar keinerlei Chance auf Entkommen. Und wie lange wird es wohl dauern, bis hier alles wieder aufgeforstet ist? Der alte Baumbestand ist sowieso nicht ersetzbar, er ist unwiederbringlich verloren, haderte der erklärte Naturliebhaber mit dem Gesehenen. Er empfand es geradezu als obszön, wie exponiert der einstige, seines wunderschönen Kleides aus Heidelbeerkraut, Farnen und Pilzen beraubte Waldboden jetzt seinen Blicken ausgesetzt war. Wo bisher Buche, Eberesche und Fichte wohltuenden Schatten und Kühle gespendet hatten, stand jetzt nichts mehr zwischen ihm und der gleißenden Sonne. Angerußte Felsformationen und tiefschwarze Fichtenzapfen zeugten von einer höllischen Hitze, die dem Wald den Garaus gemacht hatte.
Ein Jammerbild, das sich hier seinen entsetzten Augen darbot. Dabei wären schon jene Schäden besorgniserregend genug gewesen, welche Borkenkäfer und saurer Regen in diesem Nationalpark angerichtet hatten. Dazu sorgte seit einigen Jahren das veränderte Klima für Wetterextreme und diese wiederum für halb ausgetrocknete Bäche und einen sinkenden Grundwasserspiegel – oder zwischendurch für das andere Extrem, wie zum Beispiel Orkane und Überschwemmungen. Auch das zählte zu den Negativeffekten, die der Mensch in seiner rücksichtslosen Profitgier zu verantworten hatte.
Wieder schlug Henry an. Dieses Mal hatte er einen verendeten Luchs gefunden. Schade um das scheue, edle Tier, das in dieser Region bereits ausgestorben gewesen war, bis man erste Exemplare nachgezüchtet und gezielt im Nationalpark Harz ausgewildert hatte. Obwohl er tagtäglich im Forst unterwegs war, hatte er bislang erst einen einzigen zu Gesicht bekommen – von diesem gegrillten Exemplar abgesehen. Die Existenz der neu entstandenen Luchspopulation war meistens nur durch kleine GPSSender nachweisbar, die engagierte Tierschützer einigen Exemplaren eingepflanzt hatten, damit sie ihre Wanderungen nachzuvollziehen vermochten.
Die Anzahl an toten Tieren ist erheblich höher als beim letzten Brand. Wahrscheinlich hat die Feuerwehr Recht. Mehrere Brände müssen ringförmig gelegt worden sein, um im Inneren einen wahren Hexenkessel zu erzeugen. Kein Wunder also, dass sie nicht flüchten konnten, weil sie sehr zügig von den Flammen eingekreist waren. Wer weiß, wie das ausgegangen wäre, wenn es in der Nacht zum Samstag nicht wie aus Eimern geschüttet hätte , sinnierte Strunz angewidert.
Wenn er sich nicht sehr täuschte, näherte er sich jetzt endlich dem Knaupsholz. Das Waldstück lag unterhalb einer charakteristischen Geröllhalde, welche zu einem alten Steinbruch gehörte. Auf dieser relativ kahlen Fläche fristeten sogar noch einige intakte Bäumchen ihr trauriges Dasein. Die hatten die Flammen anscheinend schlecht erreichen können, weil jeglicher brennbare Bodenbewuchs fehlte, der das Feuer hätte nähren können. Die Blätter der Bäumchen und Büsche waren wegen der immensen Hitzeeinwirkung allerdings trotzdem versengt, sie hingen schlaff von den Ästen.
Und wieder nervte Henry! Allmählich bedauerte der Förster, dass er den Hund heute mitgenommen hatte, ließ ihn während der Rast kurz von der Leine. Diesmal verbellte er etwas Größeres, genau am Waldessaum des abgebrannten Knaupholzes. Das Tier wollte sich gar nicht mehr beruhigen.
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