Aber auch das Zertrümmern einer Kokosnuß war nicht so einfach, wie ein Unerfahrener sich das vorstellt. Das ideale Werkzeug wäre eine Axt gewesen, ein Beil oder ein schwerer Schiffshauer. Der Degen war nicht geeignet. Zu leicht konnte die Klinge zerbrechen. Hasard ließ sich auf die Knie sinken, zückte das Messer und nahm sich eine der im Sand liegenden Nüsse vor.
Er klemmte sie sich zwischen den Oberschenkel, damit sie beim Zustechen nicht wegrollen konnte, mußte aber darauf achten, daß die Messerklinge nicht abrutschte und ihn verletzte. Probeweise setzte er die Spitze an, ritzte die brettharte Schale an, hob das Messer wieder und ließ es mit Wucht niedersausen.
Die Klinge schob sich etwa bis zur Hälfte hinein und blieb stecken. Hasard hieb mit der Faust auf das Heft, konnte auf diese Weise aber nichts ausrichten. Deshalb nahm er die Nuß in beide Hände, drehte sie und rammte das Heft des Messers gegen einen Stein. Durch den entstehenden Druck drang die Klinge ganz ein, und ein feines Knacken ertönte.
Hasard drehte die Nuß wieder so, daß er den Griff des Messers in die Hand nehmen konnte. Vorsichtig bewegte er es hin und her. Durch den Schlitz in der Schale trat die weiße Milch hervor. Er mußte jetzt darauf achten, daß sie nicht ganz auslief.
Er lockerte das Messer ein wenig, hob die Nuß hoch und ließ sich die kühle Milch in den Mund rinnen. Sie belebte und erfrischte ihn sofort. Nachdem er es ausgetrunken hatte, spaltete er die Nuß, schälte sie und zerlegte sie mit dem Messer in Stücke.
Er setzte sich in den Sand und begann zu essen. Selbst das Schlucken bereitete ihm Schmerzen, aber er achtete nicht darauf. Das Fleisch der Kokosnuß war kühl und saftig, es knackte unter seinen Zähnen. Für einen Mann in seiner Lage konnte es nichts Köstlicheres geben.
Sein Blick wanderte über den Strand. Außer den kreischenden und protestierenden Vögeln zeigte sich kein Lebewesen. Keine Spuren deuteten darauf hin, daß die Insel bewohnt war. Die Lagune dehnte sich wie ein idyllischer See vor ihm aus, ein Ort der Ruhe und der Unveränderlichkeit.
Er öffnete noch eine Kokosnuß und verzehrte sie, dann kehrte er zu seinem Floß zurück und begann, seine „Habseligkeiten“ zu bergen. Das Fäßchen, die Leinen, das Segeltuch, die Riemen und die Planke – er schleppte sie nach und nach höher hinauf zum Palmengürtel und richtete sich einen Lagerplatz ein. Er kehrte noch einmal auf den Strand zurück, zog das Floß weiter auf den Sand, sicherte es durch ein paar Steine, die er gefunden hatte, gegen ein mögliches Abtreiben und sammelte schließlich drei, vier große Muschelschalen ein. Er nahm sie mit, schritt mit etwas schleppendem Gang zwischen den Palmenstämmen hindurch und blieb an seinem Unterschlupf stehen.
Sein Blick fiel auf das Faß.
„So“, sagte er, und seine Stimme schien ihm jetzt bereits ein bißchen vertrauter zu klingen. „Und jetzt zu uns, mein Freund. Wir sollten uns eingehender miteinander unterhalten, zur Feier des Tages sozusagen.“
Fast schien es ihm, als nicke das Faß ihm aufmunternd zu. Verlier bloß nicht den Verstand, dachte er, dreh nicht durch. Was sollen die Arwenacks mit einem übergeschnappten Kapitän anfangen?
Er hatte Männer kennengelernt, die durch ähnliche Erlebnisse den schmalen Grat zwischen dem Normalsein und der geistigen Umnachtung überschritten hatten. Aber man mußte Wochen und Monate in völliger Einsamkeit zubringen, um verrückt zu werden. Oder aber eine Verletzung am Kopf, die das Hirn in Mitleidenschaft zog, führte dazu.
Er konnte von Glück sagen, daß die Besanrute der „Isabella“ nicht seinen Kopf getroffen hatte. Hätte sie ihn nur an der Schläfe erwischt, hätte er auf der Stelle tot sein können. Oder aber er wäre bewußtlos ins Wasser gestürzt und ertrunken, wie es ja auch um ein Haar passiert wäre. Weiter: Haie hätten auftauchen können, und es hatte auch die Gefahr bestanden, daß ihn eins der herumfliegenden Trümmerteile am Kopf traf.
„Somit hast du mächtig Schwein gehabt, mein Lieber“, sagte er zu sich selbst. „Und du solltest deswegen froh und dankbar sein.“
Er war es, aber gleichzeitig sorgte er sich um das Schicksal seiner Kameraden. Wie war es den Männern der „Isabella“ ergangen? Aus dem Verlauf des Passiergefechts war zu schließen, daß es auch auf der „Isabella“ Verletzte gegeben hatte. Oder gar Tote? Er schloß unwillkürlich die Augen. Er mochte nicht daran denken. Die Vorstellung allein war zu furchtbar.
Wie sah inzwischen die Situation auf der Schlangen-Insel aus? Hatten die Spanier sie erreicht? Was unternahmen Karl von Hutten, Pater David, Ramsgate, Arkana und die anderen Verteidiger, um die drohende Invasion abzuwenden?
Nein, dachte er, der Verband kann noch nicht eingetroffen sein. Er stellte eine kurze Überschlagsrechnung auf und gelangte zu dem Schluß, daß die Spanier bei gleichbleibenden Wind- und Wetterverhältnissen noch etwa zwanzig Stunden brauchten, um ihr Ziel zu erreichen. Das bedeutete, daß sie erst gegen Mittag des 26. Juli angreifen würden.
Hasard plazierte das Fäßchen auf einem Sandbuckel – so, daß er den Korken aus dem Spundloch ziehen und den Branntwein in eine der leeren Muscheln laufen lassen konnte.
Old O’Flynn ist auf der Hut, dachte er, er wird das Nahen des Verbandes rechtzeitig genug melden. Dann tritt der exakt festgelegte Plan in Aktion: Alle Nichtkämpfer räumen die Insel und segeln nach Coral Island. Die Verteidiger beziehen Gefechtsposten und igeln sich ein. Jeder Landungsversuch des Gegners wird mit Kanonen, Brandpfeilen und Pulverflaschen beantwortet.
So hatte der Rat es beschlossen, und nach diesem Schema würden die Freunde auch verfahren. Er nahm sich vor, einfach nur daran zu denken, daß alles funktionierte und die Insel sich in eine uneinnehmbare Festung verwandelte. Einen ersten und auch einen zweiten Angriff konnten Arkana, Karl von Hutten und die anderen abwehren, und in der Zwischenzeit würden auch die Schiffe des Bundes wieder eintreffen und in die Schlacht eingreifen.
Er lockerte den Korken, und der Branntwein plätscherte in die Muschelschale. Er stöpselte das Spundloch wieder zu, hob die Muschel an die Lippen und kostete von dem scharfen Getränk. Es brannte wie Feuer in der Kehle und im Magen, regte seine Lebensgeister aber zusätzlich an.
Ein edler Tropfen, dachte er anerkennend, wer hätte das gedacht!
Nun, die Spanier waren keine Kostverächter. Vielleicht hatte das Fäßchen zum privaten Eigentum des Kapitäns einer der beiden gesunkenen Galeonen gehört. Es war ein Wunder, daß es bei der Explosion nicht auseinandergeflogen war. Hasard überlegte, ob die Überlebenden der beiden Schiffe unbeschadet Kuba erreicht hatten.
Sicherlich, dachte er, aber sie verspüren vorerst nicht mehr das geringste Verlangen, in den Kampf einzugreifen. Auch mangels Gelegenheit – der Verbandsführer kehrte jetzt nicht mehr um, um seine Mannschaften zu verstärken und sich aus den Häfen an der Nordküste von Kuba neue Schiffe zu besorgen.
Er unterbrach den Kriegsmarsch auf die Schlangen-Insel nicht mehr, er hatte bereits zuviel Zeit verloren, dieser Don Garcia Cubera, der nach allem, was Hasard über ihn vernommen hatte, ein aufrichtiger und geradlinig denkender Mensch zu sein schien.
Don Juan de Alcazar hatte ihm bei ihrer kurzen Begegnung alles berichtet: Was sich seit dem Auslaufen des Verbandes aus dem Hafen von Havanna zugetragen hatte und wie seine kleine Crew und er in das Geschehen eingegriffen hatten, indem sie sich nachts anschlichen und Ruderanlagen zerschossen.
Cubera war auf diese Weise aufgehalten worden, aber auch die Anwesenheit von Don Antonio de Quintanilla an Bord des Flaggschiffes „San José“ war ein negativer Faktor für die Spanier. Der Gouverneur behinderte und boykottierte das Unternehmen, denn er hatte inzwischen mehr Angst als Vaterlandsliebe und zweifelte an dem Gelingen.
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