Arne sah sie verblüfft an.
„Wann hast du das jemals nicht gedurft? Sagt mal, seid ihr alle verrückt geworden?“
„Ich nicht“, sagte Jörgen Bruhn trocken. „Ich habe einen völlig klaren Kopf, und ich weiß schon, daß unser Taubenvater so lange herumquengeln wird, bis wir es nicht mehr ertragen können.“
„Genau das wollte ich auch sagen!“ rief Isabella empört. „Mein Kopf ist nämlich auch klar.“
„Bei so viel Fürsprache“, sagte Jussuf und lehnte sich zurück, „brauche ich selbst nicht einmal mehr nach Argumenten zu suchen. Du hast es gehört, Arne. Ich verspreche dir, daß ich so vorsichtig sein werde wie noch nie.“
„Also gut“, sagte Arne von Manteuffel seufzend. „Ich weiß, ihr werdet mir zu dritt einheizen, wenn ich mich weiter auflehne. Verschwinde schon, Jussuf. Aber wehe, du bist nicht spätestens vor Hellwerden mit Neuigkeiten zurück!“
Der Türke war bereits aufgesprungen.
„Darauf kannst du dich verlassen“, sagte er mit einer tiefen Verbeugung.
Zehn Minuten später schlüpfte er in der zerlumpten Kluft eines Herumstreuners aus dem Tor des Hinterhofes. Die Seitengasse war so leer wie die ganze Umgebung, und er konnte ungehindert und zügig in Richtung Stadt und Gefängnis vordringen.
Schon tagsüber hatte sich für Arne und seine Gefährten bestätigt, daß es tatsächlich einen Aufschub für sie gab. Deutlich war herauszuhören gewesen, daß sich der Schauplatz des Geschehens zum Gefängnis verlagert hatte.
Und es hatte einen weiteren Grund zu wenigstens etwas Erleichterung gegeben.
Bei Dunkelheit, noch vor Mitternacht, war der Täuberich Izmir in seinen Schlag auf dem Hinterhof der Faktorei eingefallen. Aufatmend hatten Arne und seine Leute Hasards Nachricht gelesen, daß drei Schiffe des Bundes der Korsaren mit Kurs auf Havanna in See gegangen seien.
Es blieb also nur zu hoffen, daß man die Zeit bis zum Eintreffen der Freunde vom Bund der Korsaren unbeschadet überstand.
Jussuf hatte sich für seine nächtliche Erkundung bestens gerüstet. Unter seinem zerlumpten Umhang verborgen, hatte er Rumflaschen bei sich, die er alsbald im belebteren Teil des Stadtgebietes gezielt einsetzte, um Zungen zu lockern. Daß sich das offenbar turbulente Geschehen in der Tat beim Gefängnis abspielte, erfuhr er als erstes und ohne große Mühe.
Zusammen mit Schaulustigen, die sich der Verlockung seiner noch halbvollen Rumflasche ergaben, zog er weiter auf das Gefängnis zu und hörte so manchen Gesprächsfetzen der Kerle in den Hauseingängen mit.
Später, in einer Gruppe von verkommenden Gestalten, erfuhr er Einzelheiten, nachdem er seine zweite Flasche Rum hervorgeholt hatte. Die meisten hatten ihre erbeuteten Vorräte an Schnaps längst konsumiert, und es wurde immer schwieriger für sie, noch an den umnebelnden Stoff zu gelangen.
Niemand anders als der sehr ehrenwerte Alonzo de Escobedo, so erfuhr Jussuf, steckte hinter den Aktionen – gemeinsam mit dem schlitzohrigen Hundesohn Gonzalo Bastida. Einleuchtend, daß man die Gefangenen befreien wollte, um Verstärkung für den Sturm auf die Residenz zu erhalten.
Ebenso wie die lungernde Meute der Gaffer bemerkte auch Jussuf sehr bald, daß sich de Escobedos Kerle an dem Gefängnis die Köpfe einrannten. Aber so etwas wie Disziplin kannte dieser wilde Haufen schon gar nicht. De Escobedo hatte offenbar erhebliche Schwierigkeiten, mit den Kerlen überhaupt fertig zu werden. Offenbar konnte er nicht begreifen, daß eine solche Horde von Galgenvögeln mit anderen Maßstäben zu messen war als gehorsame Milizsoldaten oder Stadtgardisten.
Um ein wirklicher Anführer solcher zügelloser Horden zu werden, mußte de Escobedo noch eine Menge dazulernen.
Er konnte nicht verhindern, daß sich einige seiner Kerle einfach absonderten. Sie begriffen offenbar nicht, zu was der Sturm auf das Gefängnis eigentlich gut sein sollte. Für etwas nicht Greifbares die Knochen hinzuhalten, schien ihnen nach den vielen vergeblichen Angriffen nicht mehr vernünftig zu sein. Da war es schon besser, wieder auf eigene Faust auf Raubzüge zu gehen.
Es waren die Plünderer-Typen, jene miese Sorte zweibeiniger Ratten, die sich lieber dort etwas holten, wo sie nicht durch Widerstand oder sonstige Unannehmlichkeiten gestört wurden. Und sie hatten ein reiches Betätigungsfeld, denn alle Häuser waren von ihren Bewohnern geräumt worden.
Mit einem Bündel von Neuigkeiten kehrte Jussuf vor dem Morgengrauen in die Faktorei zurück.
Zu diesem Zeitpunkt, als er Arne, Jörgen und Isabella schilderte, was er herausgefunden hatte, war das Gefängnis immer noch ein trutziges Bollwerk gegen den Ansturm der wilden Horden.
Doch die Lage blieb weiterhin ernst.
Jussuf war nicht entgangen, daß das Lumpenpack weiteren Zulauf erhielt. Der Aufruhr in Havanna hatte sich rasend schnell herumgesprochen – vor allem, daß es in der Stadt noch immer etwas zu holen gab …
ENDE
Es gab nur ganz wenige Außenseiter, die sich auf eigene Faust ihr „Einkommen“ sicherten. Osvaldo und El Sordo gehörten dazu. Dennoch führte auch für sie kein Weg an Bastida vorbei. Bastidas Kneipe war der Hauptumschlagplatz für gestohlenes und geraubtes Gut. Bastida kaufte und zahlte sofort. Er war der wichtigste Hehler von Havanna und diktierte die Preise.
Wehe dem, der sich anderweitig umschaute, um sein Diebesgut abzusetzen! Bastida hatte eine Leibgarde – ein höllisches Quartett, das sich aus Kerlen wie dem schlanken, messergewandten Cuchillo und dem bulligen Gayo zusammensetzte.
Außerdem verfügte der Wirt über eine Schlägertruppe, die wiederum von der Leibgarde befehligt wurde. Wo die „Soldados“ hinlangten, da wuchs kein Gras mehr. Also war es alles andere als empfehlenswert, sich mit Gonzalo Bastida und seiner Organisation anzulegen.
Osvaldo und El Sordo befanden sich wieder auf Beutezug. In der Nacht hatten sie einem Haus, in dem eine reiche Bürgerfamilie gelebt hatte, einen „Besuch“ abgestattet. Am frühen Morgen dieses 10. Juli 1595 hatten sie die gestohlenen Leuchter, Bilder und anderen Wertgegenstände bei Bastida in klingende Münze verwandelt. Einen Teil des Geldes hatte der Dicke gleich wieder eingesackt. Osvaldo und El Sordo hatten Wein und Schnaps bei ihm eingekauft.
Die Weinfäßchen und die Schnapsflaschen befanden sich – gut verpackt und versteckt – auf dem zweirädrigen Karren, den sich die beiden Kerle am Vortag beschafft hatten. Ein Maultier – ebenfalls „requiriert“ – zog das Gefährt. Osvaldo und der Taubstumme waren somit gewissermaßen privilegiert. Nicht jeder Galgenstrick hatte einen Maultierkarren.
Aber auch sonst fühlten sich die beiden als „etwas Besseres“. Sie zählten sich nicht zu dem primitiven Mob, der grölend und polternd in die Häuser eindrang und alles kurz und klein schlug. Schließlich hatte der Mensch so etwas wie ein berufliches Ethos. Osvaldo und El Sordo gingen bei ihrem Werk nahezu lautlos vor und gaben sich allergrößte Mühe, nichts zu zerstören.
Alle Häuser von Havanna standen jetzt leer. Die Bewohner hatten sich in die Residenz zurückgezogen, wo sie sich – vorläufig jedenfalls noch – sicher fühlen durften. Folglich war es ein Kinderspiel, in die Häuser einzudringen und sie vom Dachstuhl bis zum Keller auszunehmen.
Als neuestes „Objekt“ hatten sich Osvaldo und sein taubstummer Kumpan ein Haus am Rande der Stadt ausgesucht. Ein dreistöckiges Gebäude mit Säulenvorbauten und Arabesken über den Fenstern. Osvaldo wußte, wer hier gewohnt hatte: ein sehr wohlhabender Kaufmann mit seiner Familie.
Die beiden Diebe öffneten mit großem Geschick das Schloß des schmiedeeisernen Tores. Dann zerrten sie ihr Maultier samt Karren auf den Hof. Osvaldo gab seinem Kumpan ein Zeichen. El Sordo nickte, daß er verstanden hätte. Er schloß sorgfältig das Tor und folgte Osvaldo zum Haus.
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