„Ihr habt es gesehen“, sagte er, als er mit den anderen, die auf Freiwache gingen, im Hof stand. „Prägt es euch ein. Jedem von euch kann es genauso gehen wie mir.“
Die Männer, die auf dem Wachgang kauerten, nickten schweigend. Eindringlicher als durch das soeben erlebte Beispiel konnte die Gefahr nicht demonstriert werden.
Cámpora ließ den Toten fortschaffen und in einer Wagenremise aufbahren. Noch war die Frage offen, ob der Mann eine Bestattung nach den Regeln der Kirche erhalten würde. Eben jene Frage war auch für die vielen Toten noch nicht beantwortet, die es in Havanna gegeben hatte.
Die Männer auf dem Wehrgang hielten sich prächtig, und es gelang ihnen sogar, ihre Gegner an der Nase herumzuführen. Dazu wendeten sie einen uralten Trick an, indem sie Helme auf Holzstäben emporhielten und gleichzeitig beobachteten, aus welchem Fenster oder welcher Dachöffnung geschossen wurde.
Sobald die betreffende Mündungsblume aufgeblüht war, konnte man gezielt antworten.
Doch es nutzte wenig. Die Sandsäcke erwiesen sich als wirksamer Schutz, so daß de Escobedos Meute keine weiteren Verluste hinnehmen mußte.
Auf der Seite der Gefängniswächter war es die Vorsicht, die ihnen dazu verhalf, den Tag gleichfalls ohne Verluste zu überstehen.
Nach Einbruch der Dunkelheit änderte José Cámpora seine Verteidigungsmaßnahmen.
Nur zwei Freiwillige blieben auf dem Wehrgang, die Aufseher Gonzago und Verdura. Der Gefängnisdirektor ahnte, daß in der Nacht Entscheidendes geschehen würde. Entscheidendes jedenfalls nach dem Willen de Escobedos und seiner Meute. Cámpora und seine Männer waren fest entschlossen, den Kerlen eine Abfuhr zu verpassen.
Auf jeden Fall, so hatte Cámpora sich ausgerechnet, war seine Mannschaft im Gefängnisbau selbst besser und sicherer aufgehoben als auf den Türmen und auf dem Wehrgang. Im Erdgeschoß befanden sich die Wirtschafts- und Verwaltungsräume, zum Hof hin gelegen. Von den dortigen Fenstern aus konnte man den gesamten zwischen Umfassungsmauer und Gebäude liegenden Hof unter Beschuß nehmen und sich gewissermaßen einigeln.
Versorgungsschwierigkeiten würde es indessen nicht geben. Im Keller des Hauptgebäudes befand sich ein Trinkwasserbrunnen, Lebensmittel waren in den Wirtschaftsräumen ausreichend vorhanden – kein Wunder bei immerhin fünfzig Gefangenen, die täglich versorgt werden mußten. Die Vorschrift besagte, daß ständig ein Vorrat am Lager sein mußte, der das gesamte Gefängnis für mindestens eine Woche versorgte. Damit sollte möglichen Verknappungen vorgebeugt werden – wie etwa im Falle einer Belagerung, was bei einer Hafenstadt nie ganz auszuschließen war.
Die beiden Freiwilligen hatten nichts weiter zu tun, als vorzutäuschen, daß der Wehrgang hinter der Mauer noch mit der ursprünglichen Mannschaftsstärke besetzt war.
Gonzago und Verdura erfüllten diese Aufgabe mit Geschick und Mut. Ihr Vorteil war, daß die Scharfschützen sie bei Dunkelheit praktisch nicht mehr sehen konnten. Ihre Kameraden kontrollierten laufend die Zellen im Gefängnisbau und sorgten dafür, daß die absolute Verdunkelung strikt eingehalten wurde. Die beiden Freiwilligen liefen also keine Gefahr, daß sich ihre Silhouetten plötzlich vor einem helleren Hintergrund klar umrissen abzeichneten.
Zudem hatten sie ihre Helme abgelegt, sich dunkle Umhänge übergeworfen und die Gesichter geschwärzt. Gonzago und Verdura verschmolzen mit der Nacht wie Schatten. Selbst ihre Bewegungen waren kaum wahrzunehmen, zumal sie den Schutz der Mauer ausnutzten und sich nur dann aufrichteten, wenn sie eine Kugel aus dem Lauf jagten.
Die Scharfschützen in ihren Sandsacknestern hatten unterdessen nicht den Vorteil eines möglichen Stellungswechsels. Gonzago und Verdura hatten sich ihre Positionen genau eingeprägt und konnten auf diese Weise beinahe gezielt feuern. Dabei nahmen sie nach jedem Schuß eine andere Position ein, so daß de Escobedos Kerle den Eindruck hatten, es noch immer mit dem vollzähligen Aufgebot der Verteidiger zu tun zu haben.
Die Kugeln der Kerle aus den Häusern klatschten entweder wirkungslos gegen die Quadersteine der Mauern, oder sie sirrten über die Mauerkrone weg. Die Gefangenen hatten sich wohlweislich in einen toten Winkel ihrer Zellen verzogen und riskierten weder einen Blick noch ein vorlautes Wort. Eine verirrte Kugel einzufangen, war das letzte, auf das sie erpicht waren.
Gonzagos und Verduras Augen hatten sich innerhalb der letzten Stunden hervorragend an die Dunkelheit gewöhnt. Sie hatten außerdem einen weiteren Vorteil auf ihrer Seite, weil in den Hauseingängen und Gassen keine Bewegungen möglich waren, ohne daß man nicht zumindest ein schattenhaftes Huschen erkannte.
Eben dieser Umstand war es, der sich für die beiden tatkräftigen Verteidiger auszahlte.
So waren sie kurz vor Mitternacht in der Lage, ihr Glanzstück zu vollbringen.
Gonzago war unmittelbar neben dem linken Portalturm und wollte abermals seine Muskete abfeuern, als er die Waffe plötzlich zurücknahm.
Da veränderte sich etwas in der Gasseneinmündung, die dem Gefängnistor genau gegenüberlag.
Gonzago spähte über die Mauerkrone. Weiter rechts, auf der anderen Seite des Tores, krachte Verduras Muskete. Die Kugel fehlte jedoch, denn es erfolgte kein Schrei oder eine sonstige Reaktion.
Es war ein kantiger Schatten, der sich dort drüben in die Einmündung schob, aus der Tiefe der Gasse heraus.
Gonzago zögerte keinen Moment. Er huschte in den Turm und hastete die Wendeltreppe hinauf. Sekunden später, als er sich zwischen den Zinnen behutsam aufrichtete, sah er seinen Gefährten auf dem Turm zur Rechten. Die Distanz betrug fünf Yards, der Breite der beiden Torflügel entsprechend.
Sie konnten sich verständigen, ohne die Stimme wesentlich über den Flüsterton zu erhöhen.
„He, Verdura! Siehst du das?“
„Natürlich! Glaubst du, deine Augen sind besser als meine?“
„Was hältst du davon?“
„Überhaupt nichts. Ich meine, so etwas sollte man den Strolchen nicht gestatten.“
„Ganz meine Meinung. Und was tut man am besten dagegen?“
In der Dunkelheit war das geschwärzte Gesicht Verduras beim besten Willen nicht zu erkennen. Trotzdem ließ sich sein Grinsen ahnen, als er antwortete.
„Was meinst du wohl, warum ich auf den Turm gestiegen bin?“
„Etwa aus dem gleichen Grund wie ich?“ entgegnete Gonzago feixend.
„Sieht verdammt so aus.“
„Fein. Dann wollen wir uns anstrengen, daß wir es ihnen auf einen Schlag besorgen.“
Die Drehbassen waren noch geladen. Gonzago und Verdura hatten die Lunten ihrer Musketen mitgebracht, um sie nun zum Zünden der Hinterlader zu verwenden.
Ruhig, ohne sich zu rühren, beobachteten sie das Geschehen in der Gasse.
Deutlich war mittlerweile das Knirschen der Räder zu vernehmen. Die Kerle verwendeten einen zweiten Handkarren. Die Lunten hatten sie geschickt zwischen Pulverfässern und Sandsäcken verborgen, so daß das Glimmen in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Auch die Kerle, die die Karren schoben, waren nicht zu erkennen.
Gonzago und Verdura ließen die Halunken mit dem Pulverkarren bis auf die Mitte der Straße vor dem Gefängnistor heran. Dann verständigte sich Gonzago mit seinem Gefährten durch einen scharfen Zischlaut.
Beide stießen die Lunten haargenau gleichzeitig in die Zündlöcher.
Die Kerle hinter den Sandsäcken des Karrens bemerkten das Unheil nicht sofort, da sie nur in Abständen nach vorn spähten, um die Richtung nicht zu verlieren.
Doch ein Warnschrei aus der Gasse ließ ihnen den Schreck jäh in die Knochen fahren. Sie warfen sich herum und ergriffen die Flucht.
Das Zündkraut der beiden Drehbassen puffte mit weißlich aufsteigendem Pulverrauch. Sofort darauf zündeten die Ladungen. Donnernd entluden sich die Bronzerohre der Hinterlader. Die beiden Mündungsblitze stachen wie glühende Lanzen in die Dunkelheit hinaus. Krachend und berstend waren die Einschläge der Blei- und Eisenladungen in die Pulverfässer zu vernehmen und wurden im nächsten Moment von der urgewaltigen Explosion übertönt.
Читать дальше