„Die Süße gehört mir“, sagte er drohend. „Ich habe die Tür aufgebrochen und sie als erster gesehen. Sie gehört mir, verstanden? Wer mich daran hindern will, dem jage ich eine Kugel in den Wanst. Auch dir, Señor Gouverneur. Und dich warne ich, Gilberto. Du kriegst notfalls mein Messer zu spüren, wenn die Pistole leer ist.“
De Escobedo erbleichte. Er mußte begreifen, daß es mit seiner neu gewonnenen Autorität nicht weit her war. Diese Meute, mit der er sich eingelassen hatte, war unberechenbar und nicht mit normalen Maßstäben zu messen. In Extremsituationen reagierten Burschen wie Vigo schlimmer als Tiere.
Und die Frau hockte zitternd da und sagte noch immer nichts. Ob sie nicht mehr sprechen konnte? De Escobedo hatte davon gehört, daß es so etwas gab. Auswirkungen eines Schocks. Ja, vielleicht hatte sie so etwas wie einen Schock erlitten. Wenn sie nicht redete und ihre Erinnerung auch nicht wieder einsetzte, dann mußte man sie eben so als Geisel präsentieren.
Vielleicht stammte sie aus einer bekannten Familie und war unter Umständen sogar die Frau eines Pfeffersacks.
Nichtsdestoweniger sah de Escobedo ein, daß sich Gilberto und er der Gewalt beugen mußten. Vielleicht war Gilberto auch nur ein stilles Wasser, das sich gern selber mit der leichten weiblichen Beute befaßt hätte und nur aus Unsicherheit so tat, als ob er der Gerechtigkeit den Vorzug gäbe.
„Also gut“, sagte de Escobedo einlenkend, „du sollst dein Vergnügen haben, Vigo.“
„Ich bin von deiner Gnade nicht abhängig!“ schrie der Rotbärtige. „Was ich haben will, das nehme ich mir!“
De Escobedo nickte geduldig.
„Auch das, auch das. Ich möchte aber, daß sie unversehrt bleibt und wir nach Möglichkeit ihren Namen erfahren.“
Vigo grinste jetzt.
„Klar doch. Bei mir hat noch keine Señora Schaden genommen. Ich habe sogar schon Dankesbriefe erhalten. Wirklich!“
De Escobedo nickte abermals und setzte dazu eine Miene auf, als glaube er dem Rotbart.
Die Frau wimmerte nur, als Vigo sie aufhob und in ein Nebenzimmer trug, dessen Tür sich noch verschließen ließ. Offenbar war sie nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Völlig entkräftet mußte sie sein. Oder der Schock hatte sie zu einem willenlosen Etwas werden lassen.
De Escobedo und Gilberto begaben sich in das obere Stockwerk. Da war eine Treppe, die vom Korridor aus zum Dachboden führte. An mehreren Stellen waren Schindeln herausgebrochen worden, und man hatte freien Blick auf die Straße – vor allem auf das gegenüberliegende Gefängnis. Auch aus den Fenstern im zweiten Stockwerk war der Blick ähnlich gut.
„Siehst du jetzt, was ich meine?“ sagte de Escobedo und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Wehrgang, wo die Aufseher patrouillierten.
Cámpora hatte ihre Zahl auf die Hälfte verringert. Keine Frage, daß er die verfügbaren Kräfte schonen wollte. Er wußte, daß ihm das Schlimmste noch bevorstand. Und er tat gut daran, sich darauf vorzubereiten. De Escobedo rieb sich innerlich hohnlachend die Hände.
„Ich fange an, zu begreifen“, sagte Gilberto gedehnt. „Von hier oben können wir sie ziemlich einfach aufs Korn nehmen.“
De Escobedo klopfte ihm auf die Schulter.
„Scharfschützen! Das ist es. Du bist der erste, der es erfährt. Wir werden hier oben Scharfschützennester einrichten und Cámpora und seine Bastarde den ganzen Tag über auf Trab halten. In der Nacht setzen wir dann endgültig zum Sturm an. Vigos Pech, daß er das nun erst später erfahren wird – da er doch so gespannt darauf war.“
Gilberto grinste.
„Ich glaube nicht, daß er es für Pech hält. Wenn seine Gier durchschlägt, kann er sich nicht beherrschen. Dann wird er zur Bestie.“
„Soll er“, sagte de Escobedo gleichgültig. „Ich will nicht darauf bauen, aber vielleicht können wir die Frau als Geisel verwenden – vorausgesetzt, die Familie, aus der sie stammt, ist reich und mächtig genug.“
„Eine hervorragende Idee!“ rief Gilberto begeistert.
De Escobedo nickte gelassen.
„Aber vorher richten wir die Scharfschützennester ein. Auf Mutmaßungen allein will ich mich nämlich nicht verlassen. Haben wir geeignete Leute in dem Haufen da unten?“ Er deutete mit dem Daumen in die Richtung des Hinterhofes.
Gilberto zog die Schultern hoch.
„Weiß ich nicht. Über die verborgenen Fähigkeiten der einzelnen Leute bin ich nicht im Bilde.“
„Also fragen wir sie“, entschied de Escobedo. „Vielleicht ist Vigo inzwischen auch interessiert genug, daß er sich uns anschließt.“
„Glaube ich nicht“, entgegnete Gilberto.
Sie stiegen die Treppe hinunter.
Ein Schuß krachte, als sie sich noch auf den unteren Stufen befanden.
„Das war in Vigos Zimmer!“ rief Gilberto und rannte los.
„Dieser verfluchte Idiot!“ knurrte de Escobedo.
Er folgte dem Unterführer und rechnete insgeheim damit, daß sich der Rotbärtige in einer Art Ekstase versehentlich am Fenster gezeigt hatte und von einem der Gefängniswächter erschossen worden war.
Dann, als Gilberto die Tür aufgestoßen hatte, glaubten beide, ein Trugbild zu sehen.
Vigo stand da. Er hatte notdürftig seine Kleidung hochgezerrt.
Die junge Frau lag am Boden und blutete aus einer Kopfwunde. Ihre gebrochenen Augen zeigten an, daß es keine Hilfe mehr für sie gab. In ihrer erschlafften Rechten lag die noch rauchende Pistole Vigos.
Er war kreidebleich im Gesicht, als er sich umwandte.
„Die – die …“, stotterte er, „die Chica hat auf einmal verrückt gespielt. Erst war sie ganz sanft und friedlich, aber dann …“ Er schüttelte den Kopf. „… dann hat sie mir die Pistole rausgezogen, ohne daß ich’s gemerkt habe. Und dann hat sie …“ Er verstummte.
„… sich selbst erschossen“, ergänzte de Escobedo. Damit bestätigte sich, was er vermutet hatte. Die junge Frau war durch die Geschehnisse während der Plünderungen geistig so sehr verwirrt worden, daß sie aus ihrer Schande keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als sich selbst zu töten.
De Escobedo bedauerte es nur insoweit, als er sie nun nicht mehr als Geisel benutzen konnte.
„Wir haben jetzt einiges zu tun“, sagte er. „Nimm deine Pistole und komm mit. Die Leiche wird nachher weggeschafft, verstanden?“
„Wir haben einen neuen Plan!“ rief Gilberto begeistert und schilderte, was er von dem künftigen Gouverneur wußte.
Die Begeisterung griff auf den Rotbärtigen über. Schnell hatte er vergessen, was soeben geschehen war. Ohne die Tote noch eines Blickes zu würdigen, folgte er den beiden Männern in den Hinterhof.
Vier Kerle meldeten sich als Scharfschützen. Unter ihnen war der mit dem geschlossenen linken Auge. Das Zielen über Kimme und Korn kostete ihn naturgemäß wenig Anstrengung.
De Escobedo hatte sich auf die oberste der drei Steinstufen gestellt, die von der Tür aus in den Hinterhof führte. Vigo und Gilberto standen wie Leibwächter unten vor ihm, und die ganze Meute hatte sich andächtig im Halbkreis versammelt.
„Scharfschützen links raustreten!“ befahl der Escobedo.
Die vier Kerle befolgten den Befehl mit stolz geschwellter Brust.
„Folgendermaßen geht es weiter“, fuhr de Escobedo fort, „die Scharfschützen tun ab sofort nichts mehr. Keinen Handschlag, verstanden? Das ist nicht etwa deshalb, weil sie was Besseres sind, sondern?“ Er warf es als Frage vor sie hin.
„Wir brauchen eine ruhige Hand“, erwiderte der mit dem geschlossenen Auge. „Körperliche Arbeit würde uns nur zittrige Finger bescheren.“
„Sehr richtig“, sagte de Escobedo mit anerkennendem Nicken. „Von euch wird es nämlich abhängen, wie erfolgreich wir unsere nächste Mission für die Nacht vorbereiten. Cámpora und seine Aufseherbastarde müssen bis zur Dunkelheit ständig in Trab gehalten werden. Also: Die Scharfschützen befassen sich ab sofort in aller Ruhe mit den Musketen, die sie einsetzen werden. Sucht euch die besten Waffen aus und bereitet eure Munition vor. Eine Bedingung gibt es für euch allerdings noch …“ Er legte eine wohlbedachte Pause ein und genoß, wie die Blicke an seinen Lippen hingen.
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