Messer und Peitschen klirrten und fielen zu Boden.
„Vor mir antreten!“ befahl Carberry scharf. „Und das ein bißchen plötzlich, oder ich schneid euch die Ohren ab, ihr Strolche!“
„Wir – wir haben nichts getan!“ jammerte der Kerl, der als erster Messer und Peitsche weggeworfen hatte.
Carberry funkelte ihn an. „Nichts getan?“ Er deutete mit dem Entermesser zu den Indios. „Wer hat diesen armen Kerlen denn den Rücken zerdroschen, eh? Und wer hat denn eben seine Peitsche fallen lassen? Ihr doch! Oder etwa nicht?“
„Das durften wir, das war erlaubt! Das sind doch nur dumme Affen, zu faul, um ordentliche Arbeit zu leisten!“ stieß der Aufseher hervor.
„Ich zeig dir mal, was ich darf“, sagte Carberry fast freundlich – und explodierte wie ein Pulverfaß.
Der Aufseher, der Indios für dumme und faule Affen hielt, flog davon, als habe ihn eine Culverine ausgespien. Er durchbrach ein Kellerfenster der Calle Lanza, Scherben klirrten, die Stiefel verschwanden, ein dumpfer Aufprall war zu hören, dann splitterte und krachte Holz. Darauf war Ruhe.
Sie dauerte keine Minute.
Eine Frauenstimme keifte: „Raus, du Scheißkerl! Verschwinde, du Hurenbock! Oder ich hole die Polizei, weil du eine ehrsame Witwe vergewaltigen wolltest!“
Carberry lauschte mit vorgeschobenem Kopf. Wo war der Kerl bloß gelandet? Etwa in einem Bett?
Der Kerl wankte aus der Haustür. Um seinen Hals hing ein geschnitzter Holzrahmen – die Vorder- oder Rückseite einer Bettstelle, jetzt allerdings durchbrochen und zersplittert.
Du meine Güte, dachte Carberry.
In der Tür tauchte die Gestalt einer Frau auf. Sie trug ein Nachthäubchen, obwohl es später Mittag war. Aber vielleicht hatte sie sich gerade zur Nachmittagsruhe hingelegt und fühlte sich mit Nachthäubchen wohler.
Sie schwang eine Nudelrolle und drosch sie dem Kerl von hinten über den Schädel. Und schon krachte die Tür zu.
Der Kerl kippte samt Holzrahmen vornüber und rasselte die fünf Stufen hinunter. Dort blieb er liegen.
Carberry faßte sich und befahl: „Aufsammeln den Kerl – den anderen da hinten auch! Abmarsch zum Gefängnis!“
Zwei oder drei sprangen hinzu und schleiften den „Vergewaltiger“ mit. Das gleiche geschah mit dem ersten Aufseher, der angeblich nichts mehr sehen konnte. Pater David begleitete Carberry ins Gefängnis, um ihm den Rücken zu decken. Aber die so starken Kerle waren nichts weiter als Waschlappen.
Pater Aloysius kehrte zu Hasard zurück.
„War ein Schwächeanfall“, sagte er leise. „Die Padres kriegen ihn wieder hin.“
Hasard nickte. „Sag ihnen, daß wir gekommen sind, um sie zu befreien. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben. Sie sollen Ruhe bewahren und nicht ungeduldig werden. Im Hof erhielten sie Essen und Trinken, Silbergeld, Kleidung, Decken und Wegzehrung. Wer Wunden habe, solle sich von den Padres verbinden lassen.“
Pater Aloysius reckte sich auf, und seine Stimme hatte den klaren Klang einer Glocke. Die Indios lauschten. Sie begriffen es nicht. Oder doch?
Hasard schluckte.
Die Männer dort vorn an der Spitze – sie hörten den Pater am deutlichsten – wischten sich über die Gesichter. Sie weinten, mein Gott, sie konnten noch weinen. Es schüttelte sie durch, aber ihre Beherrschung verloren sie nicht.
Was wärst du jetzt an ihrer Stelle für ein Mensch, dachte Hasard, der hören würde, daß die Hölle zu Ende sei?
Würdest du jubeln?
Würdest du schreien?
Würdest du Rache wollen?
Würdest du wahnsinnig werden?
Er wußte es nicht. Nur eins wußte er: Menschen, die aus einer solchen Hölle zurückkehrten, mußten anders geworden sein – an Leib und Seele. Hier sah er es ja! Er sah keine straffen, jugendlichen, lachenden Menschen. Er sah nur Schatten dieser früheren Menschen. Schatten, Schatten.
In ihm sammelte sich berstende Wut – und er würgte sie herunter.
Was du tun konntest, hast du getan, sagte der eine Philip Hasard Killigrew. Du hättest die Schinder aufhängen sollen, sagte der andere Philip Hasard Killigrew.
Da war noch ein Killigrew, der sagte: „Bist du Richter?“
„Nein, bin ich nicht“, murmelte Hasard – die Stimme von Pater Aloysius war verklungen.
Er schaute den Mann an, der bei ihm stand, aufrecht, aber das Gesicht verkantet. Sanft fragte Pater Aloysius: „Was bist du nicht, Bruder?“
Hasards Erstarrung löste sich.
„Es ist nichts“, sagte er, und sein Kopf ruckte hoch: „Es ist noch einiges zu tun.“
Pater Aloysius lächelte mit den Augen. „Da hast du recht, Bruder Hasard. Dann laß es uns anpacken.“
Und sie geleiteten die Spitze der Elenden in den Hof der Residenz. Dort stand auch der Prior der Kathedrale. Er murmelte Worte aus dem heiligen Buch. Und er segnete. Er segnete unaufhörlich, seine Kreuze in der Luft reihten sich aneinander wie die Kugeln seiner Gebetskette, die beide aus schwerem Silber waren, über seinen Bauch hingen und im Sonnenlicht blitzten.
Er sagte: „Sie sprachen: Wir haben hie nichts denn fünf Brote und zween Fische. Und er sprach: Bringet sie mir her. Und er hieß das Volk sich lagern im Gras, und nahm die fünf Brote und die zween Fische, sah auf gen Himmel, und dankte, und brach’s, und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle, und wurden satt …“
Hasards scharfe Stimme schnitt in die Segnungen und das Gebet: „Sie sind ein Heuchler, Kirchenmann! Was beteten Sie denn, als diese Menschen im Berg schufteten, hungerten, zusammengeschlagen wurden und für Sie das Silber holten, das jetzt um Ihren Hals und über Ihrem fetten Bauch hängt? Waren Sie da der Sohn Gottes, der fünf Brote und zween Fische brach, um den Hunger zu stillen?“
Der Prior starrte ihn an. Seine rosigen Wangen – und auch sein Gesicht – hatten einen purpurnen Ton angenommen.
„Du bist ein Ketzer, Fremder!“ zischte er. „Du versündigst dich! Der Herr wird seinen Bannstrahl über dich ausschütten!“
Hasard schaute hinauf in den Himmel, der von einer fast überirdischen Bläue war.
„Ob der Herr das wohl tun wird, Kirchenmann?“ fragte er, und sein Blick flammte den Prior an. „Bisher hat er’s nicht getan, und ich glaube fest, daß er mir recht gibt, wenn ich sage, daß Sie ein Heuchler sind!“
Der Prior zerrte das Kreuz hervor, hielt es Hasard entgegen und rief beschwörend: „Ketzer! Der Bannstrahl des Herrn trifft dich! Sinke dahin und sei verflucht!“
Es war so: Totenstille lag über dem Hof. Die Padres aus der Kathedrale starrten und stierten. Die Indios standen vor den Tischen, die unter der Last dessen, was diese Hungernden kaum noch kannten, fast zusammenbrachen. Hasards Männer hatten schmale Augen. Don Ramón saß auf einem Klappstuhl und atmete heftig. Der Zweite Bürgermeister stand neben ihm mit hölzernem Gesicht.
Hasard hatte die Arme über der Brust verschränkt und schaute auf das Kreuz, das ihm der Prior entgegenhielt. Er schaute, bis dieses Kreuz zu zittern begann, und dann sank das Kreuz nach unten.
„Kirchenmann“, sagte er ruhig. „Ich weiß nicht, was Sie unter einem Ketzer verstehen. Es ist mir auch gleichgültig. Nun gut, ich bin nicht dahingesunken, und niemand hat mich verflucht. Der Bannstrahl des Herrn ist – bisher jedenfalls – auch ausgeblieben. Lassen Sie mich also meine Arbeit tun, die ich mir vorgenommen hatte: diese versklavten Menschen zu befreien und ihnen die Möglichkeit zu geben, zu ihren Familien zurückzukehren, von denen sie mit Gewalt und Totschlag getrennt wurden. Ich schätze, das ist im Sinne Gottes, wie ich ihn verstehe. Sie können gehen. Wir brauchen Sie nicht – mit Verlaub gesagt: Sie kotzen mich an!“
„Sie rebellieren gegen Seine Majestät den König!“ empörte sich der dickliche Prior.
„Ihr König ist ein Popanz!“ sagte Hasard grob. „Ein Silberschlucker, der nicht satt wird, ein Größenwahnsinniger, der Menschen anderer Hautfarbe ausrotten läßt. Aber lassen wir das – Sie begreifen es nicht. Sie leiern Ihre Gebete, schlagen Ihre Kreuze, fressen sich einen dicken Bauch an, behängen sich mit Silber, und es kümmert Sie einen Dreck, ob ein paar hundert Schritte von Ihnen entfernt in diesem verfluchten Berg Menschen verrecken!“ Und sehr langsam wiederholte Hasard: „Es – hat – Sie – nicht – gekümmert! Und darum passen Sie nicht hierher, wenn ‚fünf Brote und zween Fische‘ verteilt werden, was ja nur noch als Witz aufgefaßt werden kann, als Beweihräucherung des eigenen Versagens. Sie sind hier so fehl am Platz wie der Teufel vor dem Altar des Herrn!“
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