Immer öfter war jetzt der Andenkondor zu sehen, wenn er in unglaublich großen Höhen seine einsamen Kreise zog. Es sah aus, als begleite er die Männer auf ihrem langen Marsch. Immer wieder sahen sie gebannt zu. Der Anblick des großen Vogels war faszinierend.
Die Tage in der Puna waren wieder heiß. In den Nächten dagegen wurde es bitterkalt. Sie kamen jedoch gut voran und konnten stramm ausschreiten. Das Land war rauh, vom Sturm gebeutelt. Nur ganz selten mal gab es einen Baum. Auch Großtiere fehlten. Es gab zwar den Puma, den Berglöwen, und das Huemul, einen geweihtragenden Hirsch, aber sie bekamen in den ersten beiden Tagen keines dieser Tiere zu sehen. Einmal sahen sie ein Vicuña, aber das kniff bei ihrem Anblick in langen Sätzen aus und verschwand hinter einer Mulde.
Auch die Vegetation war karg und dürftig. Meist gab es nur verschiedene Gräser, die von den Indios mit dem Sammelnamen „Ichu“ bezeichnet wurden. Die Halme der Ichugräser waren nadelartig und boten der trockenen Luft kaum eine Angriffsfläche. So hielt sich ihr Wasserverlust in geringen Grenzen.
Dann gab es ein flaches distelähnliches Gewächs. Die anderen Mulis verschmähten es, aber Diego blieb jedesmal stehen und fraß es bis zum Boden ab.
„Du bist vielleicht ein komisches Vieh“, sagte Ed. „Nachher hast du das ganze Maul voller Stacheln.“
Diego nickte und mampfte ungerührt weiter.
Am späten Nachmittag des ersten Tages deutete Dan O’Flynn voraus.
„Was ist denn das für ein Gebilde?“ fragte er. „Das sieht aus wie ein Baumstamm, der in der Mitte eine stachelige Perücke trägt.“
„Vielleicht erleben wir das Wunder der Puna“, sagte Aloysius. „Ich habe es bisher nur einmal gesehen, aber es ist überwältigend.“
„Ein Baumstamm mit Perücke soll überwältigend sein“, meinte Ed. „Das ist höchstens merkwürdig.“
„Laß dich überraschen, Bruder.“
„Sind ja nur noch zwei, drei Meilen“, schätzte Gary Andrews.
„Mindestens acht bis neun“, sagte der Padre. „In der Entfernung kann man sich gewaltig verschätzen, denn hier ist die Luft absolut staubfrei, und was man glaubt, mit Händen greifen zu können, ist noch sehr weit weg.“
Er hatte recht. Es dauerte noch eine Ewigkeit, bis sie das eigenartige Gebilde erreichten. Dann aber waren sie tatsächlich überwältigt und staunten nur noch, daß es in dieser Einöde so etwas gab.
Das Gewächs stand etwas geschützt an einem sanft ansteigenden Hang.
Niemand sprach ein Wort, alle starrten das Ding an. Es war etwa acht bis neun Yards hoch und von faszinierender Schönheit. Unten trug es ein dicker Stamm, dem die „Perücke“ folgte. Darüber hinaus wuchs ein riesiger, einem Maiskolben ähnlicher Stamm, der aus Tausenden von Blüten bestand. Und um diese Blüten schwirrten aufgeregt winzige Kolibris, die ihre langen Schnäbel immer wieder in die Blüten tauchten, um den Nektar herauszusaugen.
„Ich werd’ glatt verrückt“, sagte Ribault. „Hier, in dieser Einöde, wächst so eine phantastische Pflanze? Und dann gibt es hier auch noch Tropenvögel? Was ist das überhaupt, Bruder?“
Aloysius stand andächtig davor.
„Das ist die Puya, die allen Gesetzen des Absterbens trotzt. Man sagt, sie wuchs schon hier, als dieses Land noch flach und sumpfig war. Offenbar hat sie sich bei der Entstehung des Gebirges angepaßt und an immer größeren Höhen gewöhnt. Diese Puya ist etwa hundert Jahre alt, erst dann bildet sie ihre Blüten aus. Es ist mit Sicherheit die einzige, die wir sehen werden, wenn sie in voller Blüte steht. Leider stirbt sie nach dem Blühen ab, aber vorher tut sie noch einmal alles, um ihre Art zu erhalten und zu verbreiten. Die Kolibris fliegen von tief unten aus den Yungas herauf, wenn die Puya blüht, und laben sich an dem süßen Saft der Blüten. Ist sie nicht ein Wunder?“
Das wurde ausnahmslos und staunend bestätigt. Selbst in der öden Puna gab es immer noch etwas zu entdecken, und eine Überraschung folgte der anderen.
In dieser Nacht kampierten sie in einer geschützten Mulde in ihren Zelten und hüllten sich dick in die Decken ein, denn die Nacht war wieder eisigkalt, und der Wind pfiff scharf heran.
Gleich in der Frühe des anderen Morgens gab es die nächste Überraschung, und sie erhielten ungewöhnlichen „Besuch“.
Die Mulis waren bepackt, und die Truppe setzte sich in Bewegung, als Dan O’Flynn aufgeregt nach oben zeigte.
„Ein Kondor“, sagte er. Aber das schreckte die anderen längst nicht mehr auf. Sie wären den Anblick der Riesenvögel bereits gewohnt.
Aber dieser Kondor war offenbar sehr neugierig, denn er ging immer tiefer hinunter, in der eindeutigen Absicht, genau auf die Männer zuzufliegen.
Verblüfft starrten sie nach oben.
„Der Geier wird doch uns nicht holen wollen“, murmelte Gary, „der scheint keine Angst zu haben.“
Selbst der Padre hatte Ähnliches wohl noch nie erlebt, denn er blickte ebenfalls fassungslos auf den Vogel, der immer größer und immer gewaltiger wurde. Jetzt war er bestenfalls noch fünfzig Yards hoch und sehr deutlich zu erkennen.
Fast schwerelos schwebte er heran, immer noch auf die erstaunten Männer zu, denen es langsam mulmig wurde.
Da waren weitausladende mächtige Schwingen, die jetzt einmal kraftvoll und rauschend durch die Luft schlugen. Der riesige Kondor verdeckte mit seinen Flügeln fast den Himmel.
Aus der Nähe betrachtet, wirkte er längst nicht mehr so elegant und majestätisch. Jetzt schwebte er mit mächtigem Flügelschlag höchstens noch zehn Yards hoch über den Männern. Deutlich war der Wind zu spüren, den seine riesigen Schwingen verursachten.
Der Kondor war hager, seine Nähe beunruhigend und erschreckend. Er hatte einen abstoßenden Kopf mit nackten Kehllappen, einen furchterregenden riesigen Schnabel und großen Hautfalten um die Augen.
Diese Augen sahen kalt und berechnend auf die Männer, als handele es sich um leichte Beute. Der Glanz der Augen war böse und wirkte einschüchternd. Der Vogel schien unheimlich gut sehen zu können.
Immer noch schlug er wild mit den Schwingen auf und ab. Dann umkreiste er die Gruppe.
Als der Profos hochsprang und dabei in die Hände klatschte, traf ihn ein eiskalter Blick, der ihm durch und durch ging. Das Geklatsche störte den Riesenvogel nicht im geringsten.
Er flog eine weite Schleife, stieg dann höher hinauf und ließ sich von dem Wind in die Höhe tragen. Als er genau über den Männern stand, unternahm er den zweiten Anflug und stürzte nochmals bis auf sechs, sieben Yards hinunter.
Alle duckten sich instinktiv. Dieser Neuweltgeier war zwar ein Aasfresser, aber vielleicht hatte er heute seinen hungrigen Tag.
Er schien jeden einzelnen der Gruppe genau zu mustern, legte den Kopf schief und sah von einem zum anderen.
Erst dann strich er mit wildem Flügelschlag ab. Er ging in Schräglage, nutzte den Aufwind aus und schwebte zu den fernen Bergen hinüber. Dort schraubte er sich langsam in die Höhe, und nach einer Weile sah er wieder elegant und majestätisch aus.
„Das habe ich auch noch nicht erlebt“, sagte Aloysius. „Der hat sich sehr ausgiebig für uns interessiert.“
„Er musterte jeden einzelnen von uns“, sagte Hasard. „Dabei interessiert er sich doch nur für Aas.“
„Vor ein paar Tagen hätte ich das ja noch verstanden“, sagte der Profos, „da haben wir noch wie die Schweinchen gestunken. Aber jetzt sind wir frisch gebadet.“ Dann legte er den Zeigefinger an die Nasenspitze und fügte hinzu: „Vielleicht war’s doch Old O’Flynn, der nur mal sehen wollte, wie es uns so geht. Der hatte genau den gleichen Blick wie dein Alter drauf, Dan, wenn er jemanden mustert. Dann stiert er auch immer so scharfäugig.“
„Himmel, redest du wieder einen Stuß“, sagte Dan. „Das mit meinem Alten ist dir wohl nicht auszutreiben, was? Glaubst du Riesenhirsch denn etwa, der kann sich in einen Kondor verwandeln? Der hat so ein Vieh ja noch nie gesehen.“
Читать дальше